An der Odenwaldschule wurden jahrzehntelang Schüler durch Lehrer sexuell missbraucht. Das Vertuschen nahm fast kein Ende. Die ARD zeigt darüber einen Fernsehfilm – trotz Kritik von Ex-Schülern.

Heppenheim. Die Kamera fängt eine Idylle ein. Die Odenwaldschule liegt abgelegen von Heppenheim romantisch im sanft-hügeligen Wald. Hier muss der Himmel auf Erden sein. In Wirklichkeit erlitten hier viele Schüler die Hölle auf Erden. Sie wurden von ihren Lehrern sexuell missbraucht. Das Vorzeigeinternat der Reformpädagogik war laut einer Bilanz einer Juristin „ein Nest von Pädophilen gewesen, die sich die Klinke in die Hand gegeben haben“. Die ARD zeigt das Thema erstmals in einem Fernsehfilm.

„Die Auserwählten“ sind an diesem Mittwoch zur besten Sendezeit um 20.15 Uhr zu sehen. Ein Film mit viel Tiefgang und null Voyeurismus – gedreht an der Odenwaldschule, dem Tatort. „Wir stellen uns der Vergangenheit“, sagte Sprecherin Gertrud Ohling-von Haken. „Wir tun alles, was zur Prävention beiträgt.“

Am Wochenende vor dem Sendetermin gab es Proteste von zwei ehemaligen Schülern, die juristische Schritte androhten. Der WDR wies dies zurück, die Kritik sei unzutreffend. Einer der beiden früheren Schüler strebt nun nach Auskunft seines Anwalts eine finanzielle Entschädigung an. Er sei in einem der Schauspieler zweifelsfrei als Opfer zu erkennen und werde in seinen Persönlichkeitsrechten verletzt.

Der sexuelle Missbrauch: Zwischen den 1960er und 1990er Jahren gab es Übergriffe auf mindestens 132 Schüler. In der Idylle der ländlich-lieblichen Häuser, wo Lehrer und Schüler zusammen wohnten und zusammen duschten. Es waren mehr als ein Dutzend Pädophile. Haupttäter war der 2010 gestorbene Schulleiter Gerold Becker, für seine Pädagogik geachtet und verehrt. Laut einem Abschlussbericht über den Missbrauch war er aber ein „Weltmeister der Vernebelungsstrategie“. Richtig hochgekocht sind die Übergriffe nach langem Schweigen erst 2010, zum 100-jährigen Bestehen der Odenwaldschule.

So auch im Film. Regisseur Christoph Röhl lehnt ihn an das an, was wirklich passierte. Er arbeitete von 1989 bis 1991 als Englisch-Tutor an der Schule und hat zu den sexuellen Übergriffen bereits den Dokumentarfilm „Und wir sind nicht die Einzigen“ vorgelegt. In „Die Auserwählten“ spielt Ulrich Tukur („Rommel“, „Das weiße Band“, „Stauffenberg“), die Hauptrolle. Die Figur des charismatischen und berühmten Schulleiters Simon Pistorius ist an Becker angelehnt.

Frank ist ein Opfer

Der Film setzt Anfang der 1980er Jahre ein. Eine neue Biologielehrerin kommt. Petra Grust (Julia Jentsch/„Sophie Scholl – Die letzten Tage“, „Hannah Arendt“, „Effi Briest“) ist vom lockeren Internatsalltag irritiert. Junge Schüler rauchen und trinken Alkohol, es wird gemeinsam geduscht, ein Lehrer hat ein Verhältnis mit einer minderjährigen Schülerin. Grust wird auf den 13-jährigen Frank aufmerksam. Er wirkt verstört, hat offensichtlich Probleme und unternimmt sogar einen Selbstmordversuch. Frank ist ein Opfer von Pistorius, sein Vater glaubt ihm nicht.

Doch niederreißen kann die Lehrerin die Mauer des Schweigens nicht. Sie muss sogar gehen. Schulleiter Pistorius („Das ist die einzig reine, wahre Liebe“) hat die Lehrer entweder auf seiner Seite oder kann sie täuschen, besitzt Kontakte zu höheren Kreisen. Der Film zeichnet die Täterstruktur nach und wie Täter gedeckt werden.

„Die Auserwählten“ deutet sexuellen Missbrauch nur an. So kommt Pistorius aus der Dusche, Frank kauert noch dort unter der Brause. Seinem Opfer droht er: „Pass auf, Du kleiner Scheißer. Sonst erzähl ich allen, was Du mit mir machst.“

Erst Jahre später, bei der Feier zum 100-jährigen Bestehen, platzt Frank nach dem Selbstmord eines ehemaligen Mitschülers als erwachsener Mann dazwischen, erzwingt ein Reden über den Missbrauch.

Selbst 2014, vier Jahre nach dem wirklichen Bekanntwerden des sexuellen Missbrauchs, ist die Odenwaldschule noch nicht zur Ruhe gekommen. Dem Privatinternat fehlen Schüler und damit Einnahmen. Immobilien müssen verkauft werden, um Geld einzunehmen. Aufsichtsbehörden haben Auflagen gemacht, laut Sozialministerium ist die Betriebserlaubnis erst einmal auf ein Jahr begrenzt. Die Odenwaldschule hält ihre Vergangenheit aber nicht unter der Decke.