Seit der ersten Ausgabe des Hamburger Abendblattes erscheint auf der Titelseite eine kleine Porträtskizze – als Markenzeichen der Zeitung. Das Besondere: Die Zeichnung wird jeden Tag von Hand angefertigt. Strich für Strich. Heute schauen wir der Zeichnerin einmal über die Schulter.

Jeden Morgen steht in der Redaktionskonferenz die Entscheidung aufs Neue an: Wen sehen wir heute menschlich? Manchmal liegt es mit einer aktuellen Geschichte auf der Hand (etwa der erschöpfte Feuerwehrmann zum Großbrand oder der berühmte Schauspieler zur Premiere am Theater). Manchmal werden in der Konferenz Ideen für die nächsten Tage geboren, und manchmal gibt es gleich mehrere Vorschläge für die aktuelle Ausgabe. Manchmal sitzt der Blattmacher aber auch mit ratlosem Blick an seinem Tisch und fragt jeden, der vorbeikommt: Habt ihr ein „Menschlich“?

Seit der ersten Ausgabe am 14. Oktober 1948 erscheint täglich unten links die kleine Porträtskizze unter dem Titel „Menschlich gesehen“ auf der Seite 1 des Hamburger Abendblatts. Es ist kein langer Text, nur etwa 40 Zeilen hat das Porträt. Es ist ein unverwechselbares Markenzeichen der Zeitung geworden. Denn es ist kein nüchterner Lebenslauf. Das „Menschlich gesehen“ hat die Aufgabe, Mitmenschen zu beschreiben. Sie spielen immer in oder am Rand der Nachrichten des Tages eine Rolle. Hier ist es nicht wichtig, welche Universität jemand besuchte, sondern was ihn begeistert. Hier interessiert nicht das Geburtsdatum, sondern vielleicht, ob sich jemand noch wie ein Kind freuen kann. Und so wie der Text etwas kleines aber ganz besonderes ist, so ist auch die Optik dieser Kolumne etwas Außergewöhnliches: Auch im Computerzeitalter wird das Porträt jeden Tag – ganz altmodisch und analog – von Hand gezeichnet. Vier Zeichnerinnen – Annette Bätjer, Sonya Elisabeth Noy, Ute Martens und Anne-Kathrin Piepenbrink – wechseln sich derzeit beim Abendblatt darin ab, das „Menschlich“ zu zeichnen.

Als Vorlage dient jeweils ein Foto. Die studierte Kinder- und Jugendbuchillustratorin Ute Martens, die Helmut Schmidt für diese Ausgabe porträtiert hat, zeichnet seit 1987 regelmäßig „Menschlich gesehen“ für das Abendblatt. Meist kommt sie zwischen 16 und 18 Uhr in die Redaktion. Etwa eine gute Stunde sitzt sie dann an einem Schreibtisch in der Fotoredaktion und bringt mit feinem Bleistift erst die Strukturen des Gesichts als Vorzeichnung auf das Papier. Dann folgen die Tiefen des Gesichts mit einem feinen, schwarzen Tintenstift und schließlich wird es mit kurzen Strichen immer weiter verdichtet. Für den Zeitungsdruck wäre der graue Bleistift zu schwach, daher der Griff zum Tintenstift.

Das Prinzip – von der groben Skizze zur immer feiner werdenden Zeichnung – kann man auf dieser Seite gut nachvollziehen, wenn man die Stadien der Zeichnung vom Foto oben links im Uhrzeigersinn folgend bis zum fertigen Porträt mit der Nummer 12 betrachtet. Im Original ist die Zeichnung übrigens gut handgroß – wegen der starken Verkleinerung müssen die Zeichnerinnen darauf achten, dass die Striche nicht zu eng beieinander liegen.

Ist die Zeichnerin schließlich mit dem Ergebnis zufrieden folgt ein letzter kritischer Blick des Blattmachers – bevor das tägliche kleine Kunstwerk auf der Abendblatt-Titelseite schließlich eingescannt und per Computer auf der Seite platziert wird.