Regielegende Harry Kupfer inszeniert in Salzburg einen festspielwürdigen „Rosenkavalier“ als Beitrag zum Richard-Strauss-Jahr 2014

Salzburg. 94 Jahre mussten die Salzburger Festspiele erst alt werden, bevor sie jetzt den „Director’s Cut“ einer Strauss-Oper erlebten, die alle in- und auswendig zu kennen glauben, einen Klassiker, der an der Salzach fast so sehr Lokalheiligtum ist wie der „Jedermann“ oder alles von Mozart: den „Rosenkavalier“, dieses melancholisch verrüschte Meisterwerk über Liebe und Vergänglichkeit, Jugend und Alter und die Grausamkeit unbeherrschbarer Gefühle. Ganz und gar ungekürzt und als Gegengewicht zur Best-Ager-Marschallin mit einem virilen Landedelmann Ochs auf Lerchenau, der eben nicht das Klischee vom wohlstandsbäuchigen, angegrauten und leicht verblödeten Falstaff-Vetter aus dem österreichischen Dingsda bediente.

Eine ebenso überfällige wie originelle Besinnung auf das Original war das, perfekt abgestimmt auf das Jubiläumsjahr von Richard Strauss, bei dem die Festspielstadt Salzburg – so viel Glamour darf’s bitte schön schon sein – etwas ganz Besonderes aufbieten wollte. Wenn schon, denn schon, war hier die Devise, in jeder Hinsicht. Jeder Strich in der Partitur wurde zur Feier des 150. Geburtstags aufgemacht; das brachte gut zehn Minuten zusätzliche Spielzeit, vor allem aber als Operngourmet-Sahnehäubchen einige dramatisch neue Erkenntnisse über den Ochs. Die Zensur hatte vor gut einem Jahrhundert die Hälfte der Mägdeerzählung im ersten Akt gestrichen, in der er lang und breit über seine Schürzenjagd-Methoden herumdröhnt. Hier durfte er nun wieder ungebremst schwadronieren. Da der Opernregie-Routinier Harry Kupfer mit dem kleiderschrankhohen Österreicher Günther Groissböck einen Mittdreißiger-Ochs so kernig und kerlig auf die Bühne brachte, wie er mitsamt seines Akzents im Textbuch steht, „leicht verbauert“ und schwer zu bremsen, blühte das Stück an dieser Stelle unerwartet zu ganz anderem Leben auf.

Überhaupt, die Inszenierung. Fein war sie, sehr fein sogar, subtil zeichnend und gekonnt. Und völlig risikofrei. Kein Regietheater-Blick nach vorn im Zorn, sondern modellierte, traditionelle Bilderbuch-Schönheit mit viel Contenance. Kupfers Konzept kam durch und durch zurückhaltend daher, er wollte auf seine alten Tage wohl keinen auf Konzeptkrawall gebürsteten „Rosenkavalier“ mehr bringen (und durfte es vielleicht auch nicht, um die sehr gut zahlenden Festspielgäste nicht zu verwirren). Er wollte zum sentimentalen Mitfühlen verführen. Alle Rokoko-Zöpfe, die man von hier, da und dort zur Genüge kennt und als historisierende Wegweiser entsprechend satthat, wurden komplett abgeschnitten. Stattdessen zeigten Kupfer und sein Bühnenbildner Hans Schavernoch Geld- und echten Adel alter Schule im Dunstkreis des Wiener Hofs, so fesch, wie er sich präsentierte, als um 1911, der Entstehungszeit dieser Oper, die Ära der Habsburger begann, sich ihrem Ende zu nähern. Also auch in dieser Hinsicht ein adrett bebildertes Endspiel, ein Ausklingen mit Stil und Art, das Marschallinnen-Bewusstsein, dass die besten Tage vorüber sein könnten. Secession- und Jugendstil-Kulissenandeutungen, geschmackvoll arrangiert, vor einer riesigen Fototapete mit einem Reigen stimmungsvoller, menschenleerer Panoramen von Wiener Ringstraßen-Fassaden, prunkvollen Sälen und melancholisch vernebelten Parkwegen. Wiener Glut sähe anders aus. Viel kühles, nobles Silbergrau, verlebte Pracht symbolisierend, in einer Kammerspiel-Atmosphäre, die sich mit der fußballfeldgroßen Bühne des Festspielhauses bestens vertrug, Ein Fin-de-Siècle-Museumsstück, das im prächtig polierten Schmuckrahmen seinen Lauf nahm.

Die „wenn schon, denn schon“-Haltung prägte auch das Geschehen im Graben. Wenige Tage, nachdem sich die Wiener Philharmoniker und der von ihnen so demonstrativ ungeliebte Christoph Eschenbach nebenan im Haus für Mozart mit einem lustlos verschlafenen „Don Giovanni“ blamiert hatten, liefen sie hier unter ihrem Chef Franz Welser-Möst zu festspielwürdiger Hochform auf. Mehr Heimspiel als dieses Stück – und mehr Blamage beim erneuten Pflichtstück-Versemmeln – ginge ja auch kaum. Um den historischen Dimensionen dieser Spezialpremiere gerecht zu werden, hatte Welser-Möst für seinen Strauss den Orchestergraben genau auf jene hohe Höhe einstellen lassen, die Herbert von Karajan 1960 bei seinem legendären „Rosenkavalier“ wollte, um näher beim Ensemble zu sein und unmittelbarer begleiten zu können. Nach anfänglichen Justierungsschwierigkeiten bei der Lautstärke fanden sich Bühne und Tutti schnell und ließen nicht mehr voneinander. Und Welser-Möst bewies dabei virtuos, wie geschickt er bei den vielen schönen Stellen ein allzu aufdringliches Habe-die-Ehre-Loswalzern der Staatsopern-Kollegen vermeiden konnte, ohne das Stück seiner Donauwellen-Identität zu berauben. Auch für die Sänger und ihr am Ende begeistertes Publikum war dieser Abend bis auf wenige kleinere Schwachstellen ein Fest. Krassimira Stoyanova gestaltete ihren Part als Marschallin nobel und gefasst gelassen. Ihr gelang die heikle Balance zwischen Abschied und Akzeptanz bestens. Groissböcks Ochs war, darstellerisch ohnehin, vom Feinsten, mit einer saftigen Leichtigkeit, die dem Schweinehund auf der Bühne bei aller Macho-Hinterhältigkeit einen ziemlich unwiderstehlichen Schlawiner-Charme verlieh.

Auch Sophie Kochs Octavian entsprach voll und ganz den Erwartungen, die man an dieser Adresse an diese Hosenrolle haben darf. Reife und Anmut sind große Worte, doch hier durchaus verdient und angemessen. Einzig die aus Hamburg stammende Mojca Erdmann, eine silbrig flirrende Sophie mit Lampenfieber-Trübungen in der Höhe, schwächelte hin und wieder und strahlte in der Schlussszene nur bedingt. Doch das blieb am Ende eine Petitesse, verglichen mit der Begeisterung im Saal über die Gelungenheit einer Prestige-Premiere, die ohne verstörende Wenns und Abers hielt, was sie versprach.