Sven Amtsberg beschreibt in seinem neuen Buch „Paranormale Phänomene“

Hamburg. Wenn man die Freie und Hansestadt Hamburg humoristisch vermisst, dann kommt man von Heinz Strunk über Jacques Palminger schnell zu Olli Dittrich. Wir sprechen jetzt von der Avantgarde-Komik, klar, nicht von den Komödien im Winterhuder Fährhaus. Studio Braun, Dittsche: Das ist deutschlandweit verstandener Unernst mit Tiefenwirkung. Der Hamburger Humor vereint den Sinn fürs Skurrile mit der Freude am Sprachspiel, er kennt die Melancholie so gut wie die Ironie. Und manchmal gefällt ihm die Bizarrerie dann am besten, wenn sie eben nicht subtil ist – und trotzdem feingeistig.

Als Paradebeispiel für Letzteres kann Sven Amtsberg dienen, der unter den Hamburger Humorschaffenden derzeit noch zu den hidden champions gehört. Man kennt ihn hier als Gründer des Macht-Clubs, einer Institution des anspruchsvollen Literaturentertainments, und auch als Moderator vieler anderer Veranstaltungen, die im weitesten Sinne mit dem Schreiben zu tun haben.

Zuletzt schrieb er über den FC St. Pauli, jetzt wird es paranormal

Amtsberg, Jahrgang 1972, ist ein Humorist von hohen Gnaden: Das wissen auch die, die einmal eine seiner berühmten Stadtteilexkursionen besucht haben. Dort verrätselt Amtsberg auf amüsante Weise die Lokalgeschichte der Hamburger Quartiere. Mit den Mitteln der Übertreibung, Umkehrung und Satire wirft er einen neuen Blick auf Altbekanntes.

„Die Wahrheit über Deutschland“ hieß das Buch, in dem der Republikreisende in gespieltem Ernst völlig unernst über Land und Leute schrieb. Jetzt erscheint ein neues Buch des Mannes, der sich zuletzt auch über seinen liebsten Fußballverein verbreitete („111 Gründe, den FC St. Pauli zu lieben“) und darüber hinaus die dunkle Seite der Komik entdeckte.

Der Erzählband „Paranormale Phänomene“ trägt den augenzwinkernden Untertitel „Fast wahre Geschichten“ und wurde von der Zeichnerin Kat Menschik illustriert – was das Buch auch optisch zu einem Erlebnis macht. Der Lesestoff ist so düster wie die schwarz-weißen Bilder (Frauen, die Fische herauswürgen!): Wir haben es hier mit einem Schauerstück in mehreren Teilen zu tun.

Formal besteht der Band aus 19 Kurzgeschichten, die Titel tragen wie „Schwebezustand (Astrokalypse)“, „Der Geruch einer Trümmerfrau (Stone Tape Theory)“ oder „Vater Morgana (Pater Transformata)“. Es geht also tatsächlich um übersinnliche, surreale und unnormale Vorgänge, die der Icherzähler in stoischer Ruhe vor dem Leser ausbreitet, nachdem er die Erscheinungen terminologisch dingfest gemacht hat. Die Frau mit den Fischen fällt übrigens laut Amtsberg in den Bereich der „Meeresepiphanien“.

Die Verbindung zwischen allen Geschichten ist offensichtlich: Es geht viel um die Nacht, die den Tag verschlingt. Um klaustrophobische Zustände, um Menschen, die heimlich um uns sind, Menschen, die verschwinden, Tiere, die so ziemlich das Gegenteil von possierlich sind.

Es geht also, in einem Wort, um die Literarisierung unserer Ängste, die Amtsberg gekonnt in psychologisch geschulte Tableaus fasst. Mit Freud gesprochen, beschreibt Amtsberg traumartige Sequenzen, die allesamt etwas über unsere Triebe aussagen könnten. Wir erleben den Horror des Unbewussten, den der Autor jedoch mit dem ihm so vertrauten Witz schildert.

„Vom Wummern und Wimmern (Nazi-Emergenz)“ ist, tja, eine Parabel über die deutsche Schuld. Bei Amtsberg wird die so in Szene gesetzt: Ein Ehepaar hört jede Nacht beunruhigende Geräusche aus dem Keller. Was tut man in einer solchen Situation? Man sieht nach. Und findet einen alten, halbnackten Mann „in einem zu großen Schlüpfer“, der sich an einem Trimm-dich-Rad festhält.

Nach eigenem Bekunden ist er ein Nazi, und in seinem Höschen ist kein Geschlechtsteil, sondern eine Fleischblume, die singen kann. Sein Name ist Horsst (zwei Mal „s“) Wessel. Er ist ein kleiner Philosoph und sagt Dinge wie: „Glück ist eine Relation. Man kann glücklich werden, ohne dass sich am eigenen Leben etwas ändert. Am Leben der anderen muss sich etwas ändern.“

Irgendwann verschwindet Horsst, und man bleibt als Leser einigermaßen amüsiert und verstört zurück. In „Die Tiere (Extraterrestrische Lebensformen)“ bringt ein Schlachter aus dem Wald ein paar gräuliche Tierwesen mit nach Hause und schmeißt sie in die Pfanne („Annegret nannte mich oft den Joseph Beuys der Schlachtkunst“); leider verdunsten die Tiere beim Brutzeln. Später bemächtigen sie sich auf eher unangenehme Weise seiner Frau und krabbeln im Schlaf einfach in sie hinein. Von ihr unbemerkt, übrigens, auch deswegen macht ihr die Okkupation nichts aus. Im Gegenteil – sie wird irgendwie glücklicher.

Sven Amtsberg legt in seinen komplexen Texten viele Fährten

Amtsberg kann nichts durchgeknallt genug sein, dabei erzählt er in seinen Geschichten, die manchmal vielleicht auch eine Umdrehung zu viel haben, doch von nichts anderem als dem Üblichen: „Der Amtsberg (Akropathie)“ zum Beispiel ist auf eine Art eine Coming-of-Age-Geschichte. Bei Amtsberg ist die Abnabelung des jungen Menschen von seinen Eltern freilich fern jeder Realität. In dem Text geht es um einen Berg, der immer näher kommt und eine Mutter und einen Vater, die in diesem Gebirge verschwinden, die eine indirekt, der andere direkt.

„Akropathie“ ist die medizinische Bezeichnung für eine Krankheit im Bereich der Extremitäten – es geht Amtsberg darum, so viele Fährten zu legen wie möglich. Auf diese Weise werden seine Texte zu komplexen Gebilden, die man gebannt liest und zu decodieren sucht.

Sven Amtsberg: „Paranormale Phänomene“. Metrolit. 204 S., 20 Euro