Das Hurricane Festival zog 70.000 Menschen nach Scheeßel. Die Bands sorgten für Euphorie und Gänsehaut

Scheeßel. Musik ist Poesie. Und wenn, wie beim Hurricane Festival an diesem Wochenende, 70.000 Menschen zusammenkommen, um den Liedern von rund 100 Acts wie Interpol, Donots, Franz Ferdinand, Volbeat, Black Keys, Lykke Li und Lilly Allen zu lauschen, dann entfaltet sich die Magie von Worten, Tönen und Gefühlen besonders intensiv.

Eine der Bands, die die inbrünstige Verwandlung durch den Pop besonders kunstvoll zelebriert, ist Arcade Fire. Rock, Folk und Disco fügt das kanadische Kollektiv zu einem dichten, irrlichternden Sound, der das Glück in die Glieder treibt.

Zum Auftakt mit dem Song „Reflektor“ halten sie der Menge Spiegel entgegen. Ein passendes Bild. Ist ein Festival doch stets auch eine große Selbstbespiegelung, ein Widerschein der eigenen Emotionen. Verstärkt von Gitarren, Geigen, Keyboards, Percussion und Bläsern schickt die Band ihren mehrstimmigen Gesang übers Stoppelfeld. Das Unbehagen an der Welt, es wird bei Arcade Fire nicht betäubt, sondern ist deutlich zu spüren. Die Musik aber kehrt den Schmerz ins Positive. Und dann erscheint da auf einem Sockel in der Menge auf einmal ein Tänzer im Discokugel-Gewand und schickt viele kleine Lichtkegel Richtung Sternenhimmel. Eine Ahnung von Unendlichkeit. „It’s never over“ verkündet die Band. Es ist nie vorbei. Zumindest nicht in der bald einsetzenden Erinnerung. Denn die Verklärung, nicht nur auf den sozialen Medien, gehört zwingend dazu, zum Poesiealbum Festival.

Das Hurricane, es ist für viele auch eine große Chance, die Magie des Augenblicks auszukosten. Nicht funktionieren zu müssen. Sich zu entgrenzen, anders zu sein. Warum sich also nicht als Bierflasche verkleiden, wie es ein junger schlaksiger Typ getan hat. Zahlreiche stürmische wie selige Umarmungen sind im sicher.

Das Hurricane fand in diesem Jahr mit starker Hamburger Beteiligung statt

Der Zufall, so scheint es, darf häufiger regieren in diesem Kosmos. Als Thees Uhlmann seinen Song „7. März“ ankündigt, sagt eine freundliche alte Dame im Publikum mit ruhiger Stimme: „Das ist mein Geburtstag.“ Die Mutter des Rocksängers hat sich unter das Festival-Volk gemischt, um die Ode ihres Sohnes bei seinen Fans anzuhören. Ihr Haar ist vom Wind leicht zerzaust. Mit Stolz und Rührung im Blick schaut sie umher.

Was sich da präsentiert ist einerseits Reizüberflutung, andererseits ein steter Quell für absurde, aberwitzige und auch atemberaubende Beobachtungen. Das Storchenpaar, das in der Dämmerung über die blaue Bühne segelt und sich auf einem Funkmast niederlässt. Der rote Staub, der mitunter so hoch weht, als befinde man sich in der Wüste. Und der Zeichnungen auf den Gesichtern hinterlässt. Augen werden kleiner, Herzen weiter.

Die Schönheit des nächsten Morgens, wenn es gilt, sich aus dem Campingschlafgemach zu schälen, erschließt sich mitunter jedoch erst auf den zweiten Blick. Fundstücke säumen wie eine Freiluftausstellung den Weg zu den Waschrinnen. Eine elektrische Zahnbürste, mit Schlamm verschmiert. Eine Sonnenbrille, halb zertreten. Zudem Gesprächsfetzen. „Ey Alder, ich bin auf meinem Zelt aufgewacht.“ Wie gut, dass die Hamburger von Tonbandgerät den Schlaftrunkenen am Mittag auf der Hauptbühne direkt einen motivierenden Slogan mit auf den Weg geben: „Auf drei fliegt uns das Leben um die Ohren“, singt Ole Specht zur schmissigen Popmelodie seiner Band.

Ohnehin wartet das diesjährige Hurricane mit starker Hamburger Beteiligung auf. Bosse, Marcus Wiebusch, Tocotronic, Fettes Brot. Pünktlich zu einigen Tropfen intoniert der Altonaer Achter von Station 17 seinen groovenden Hit „Ohne Regen keinen Regenbogen“ und animiert seine Fans mit ungebremster Spielfreude zur Welle. Die Hamburger Punkrocker von Findus hingegen rufen eine „Erdbebenwarnung“ aus, die von Sänger Lüam mit einem Gang ins Publikum direkt eingelöst wird.

Das Hurricane Festival ist auch ein Ort permanenter Nähe. Ob man will oder nicht. Und auch wenn das Gelände mit eigenem Discounter, Massage-Station und 532 Duschen schon einige Annehmlichkeiten bereit hält, hat sich wohl kaum jemand sein Refugium so gemütlich eingerichtet wie Fünf Sterne Deluxe. Auf der blauen (!) Bühne haben sie ihre Lieblingsbar nachgebaut und laden mit Hits wie „Die Leude“ und „Ja, Ja... Deine Mudder!“ zur ebenso fulminanten wie nostalgischen Hip-Hop-Reise.

Und zwischendurch fragt jemand, wie man eigentlich in die erste Reihe kommt

Die mitgealterten Fans lassen die 90er-Jahre hoch leben. Die Festival-Neulinge hingegen feiern später die rappenden Rocker Kraftklub mit ihrem Leitspruch „Wir sind zu jung to rock’n’roll“. Da wird sich auch schon mal Rat von erfahrenen Festivalgängern geholt: „Entschuldigung, wie komme ich denn hier eigentlich in die erste Reihe?“

All die unterschiedlichen Persönlichkeiten, die da beim Hurricane feiern, sie verbinden sich vor allem beim gemeinsamen Singen, zu dem viele der Bands auffordern. Wie zum Beispiel Family Of The Year, die im Zirkuszelt spielt. Das Publikum bildet zu „Hero“, der Folk-Hymne der Kalifornier, einen A-cappella-Chor, der von Gänsehaut bis Tränen viel auslöst. Alles scheint durchlässig zu werden, alles ist im Fluss. Pure Poesie.