Eine Ausstellung in Hamburg zeigt die ungewöhnliche Erfolgsgeschichte des Fahrzeugs, das nur mit menschlicher Muskelkraft funktioniert

Die Erfindung des Rads lag schon etwa 6000 Jahre zurück, als am 5. April 1815 auf der indonesischen Insel Sumbawa der Vulkan Tambora ausbrach und eine der größten Umweltkatastrophen der Menschheitsgeschichte auslöste. Etwa 150 Kubikkilometer Staub und Asche wurden in die Atmosphäre geschleudert und verteilten sich in den folgenden Monaten und Jahren als Schleier über weite Teile des Erdballs. Das führte im Norden der USA und in Kanada sowie in Teilen Europas zu Ernteausfällen und Hungersnöten. Nachdem es in Mitteleuropa schon in den Vorjahren Schlechtwetterphasen gegeben hatte, nahmen die Ernteausfälle nun dramatische Ausmaße an. Da in weiten Teilen Deutschlands die Haferernte 1816 fast total ausfiel, mussten zahllose Pferde geschlachtet werden, was im Postkutschenzeitalter enorme Folgen für die Mobilität hatte.

Aber könnte man das Pferd nicht vielleicht ersetzen? Sollte man nicht versuchen, ein Fahrzeug zu konstruieren, das sich durch menschliche Muskelkraft antreiben ließe? Mit solchen Fragen beschäftigte sich im „Jahr ohne Sommer“, wie 1816 später genannt wurde, der badische Forstbeamte Karl Drais. In seiner Werkstatt hantierte er mit hölzernen Rahmen und Rädern und schraubte etwas zusammen, das er „Laufmaschine“ nannte. Am 12. Juni 1817 schob Drais seine 22 Kilo schwere Konstruktion raus, schwang sich auf dieses künstliche Pferd mit zwei Rädern und fuhr von Mannheim zur Schwetzinger Poststation im heutigen Mannheimer Stadtteil Rheinau. Die Strecke, die hin und zurück etwa 14 Kilometer betrug, bewältigte der Mann, der das Rad gerade neu erfunden hatte, in weniger als einer Stunde, was einer Durchschnittsgeschwindigkeit von knapp 15 Stundenkilometern entsprach.

Obwohl sich die Draisine, wie die Urform des Fahrrads nach ihrem Erfinder bald genannt wurde, als Alternative zum Reitpferd bewährte, konnte sie sich zunächst nicht durchsetzen. Nachdem sich das Klima bis 1820 normalisiert hatte, fielen die Haferpreise, was den traditionellen Transport mit Reit- und Zugpferden wieder bezahlbar machte. Außerdem hatte es Zusammenstöße mit Fußgängern gegeben, weshalb die Draisine vielerorts verboten wurde.

„Wirklich durchsetzen konnte sich das Fahrrad erst ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Zuge der industriellen Revolution, als die serielle Fertigung von Rädern begann, die nun bereits über Pedalantrieb verfügten“, sagt Mario Bäumer, der Kurator der Ausstellung „Das Fahrrad. Kultur, Technik, Mobilität“ im Hamburger Museum der Arbeit. 200 Jahre technische Entwicklung führt die Ausstellung auf 600 Quadratmetern vor Augen, eine Galerie mit Ikonen der Fahrradgeschichte, die zeigt, wie sich Technik und Design verändert haben. Aber trotz des technikgeschichtlichen Ansatzes stellt die Schau das Fahrrad in einen umfassenden Kontext, bei dem es um Mobilität und Mode geht, um soziale Aspekte und urbanen Lebensstil, um Umweltfragen und Gesundheitsförderung, um Sport und Lifestyle und um die zunehmende Bedeutung des zum Kultobjekt avancierten Fahrrads für die Mobilität in der Stadt. So vollzieht die Schau einen weiten historischen und kulturgeschichtlichen Bogen von einem Laufrad aus der Zeit um 1820 – der einzigen Kopie in der Ausstellung, die sonst nur Originale zeigt – über ein 1885 von der Firma Adler gefertigtes Hochrad, ein Sicherheitsrad von 1890 mit sichelförmigen Rahmen, ein Holzfelgen-Rennrad der Firma Diamant von 1930 bis hin zu kuriosen Exemplaren wie dem „Swing Bike“, das über eine Hinterradlenkung verfügt, und Hightech-Rädern mit federleichten Karbonrahmen.

„In der Geschichte des Fahrrads gab es ein Auf und Ab, was sich in der Regel aus den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erklärt“, sagt Mario Bäumer: Das Hochrad war noch ein teures Luxusprodukt, das nicht dem Alltag diente, sondern gern von Dandys genutzt wurde, sportiven Lebensstil zur Schau zu stellen.

Das neue Verkehrsmittel wurde populär. 1896 gab es in Berlin 35.000 Fahrräder

Erst als die technische Entwicklung des Grundprinzips Anfang des 20. Jahrhunderts weitgehend abgeschlossen war und Firmen wie Opel in Rüsselsheim zur Fließbandfertigung übergingen, wurde das Fahrrad massentauglich. Schon im späten 19. Jahrhundert gab es in den USA und in Europa Radrennen, die stark zur Popularität des neuen Verkehrsmittels beitrugen. Die größte Verbreitung erreichten die Räder in Großstädten. 1896 wurde ihre Zahl in Berlin auf 35.000 geschätzt. Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg setzte ein Preisverfall ein, 1920 kostete ein Rad nur ein Viertel des Vorkriegspreises. Nun konnten sich auch Arbeiterfamilien Räder leisten, sie dienten oft dazu, zur Arbeitsstätte zu fahren, ermöglichten aber an den Sonntagen auch Ausflüge in die Naherholungsgebiete jenseits der Stadtgrenzen. Kein Wunder, dass das Fahrrad in der Weimarer Republik eine Hochzeit erlebte.

Auch in der NS-Zeit trug das Fahrrad zur Mobilität bei, zumal die von der NSDAP propagierte massenhafte Motorisierung aufgrund der Kriegsvorbereitungen ausblieb. Damals entstanden in Hamburg 300 Kilometer Radwege. Auch militärisch spielte das Rad eine Rolle, in der Ausstellung ist ein Klapprad zu sehen, das britische Fallschirmspringer nutzten, um sich schnell von ihrem Landungsort zu entfernen. In der Nachkriegszeit war das Fahrrad in den zerstörten Städten oft das einzige funktionierende Transportmittel. Per Rad unternahmen Stadtbewohner vor der Währungsreform „Hamsterfahrten“, um auf den Dörfern Wertgegenstände gegen dringend benötigte Lebensmittel einzutauschen. Auch in den 50er-Jahren entstanden in Hamburg neue Radwege, doch das sollte sich ändern.

„In der Zeit des Wirtschaftswunders ging es mit dem Fahrrad bergab. Verkehrsplanerisch war die autogerechte Stadt das Leitbild. Wer es sich leisten konnte, setzte auf Motorisierung. Das Motorrad, der Kabinenroller und später der Kleinwagen wurden zum Symbol einer Zeit, in der das Fahrrad zunehmend auf der Strecke blieb“, sagt Mario Bäumer, der das Jahr 1973 als wichtige Zäsur bezeichnet: Mit Ölkrise und Sonntagsfahrverboten wurde bewusst, dass Ressourcen begrenzt sind. Mit dem Aufkommen neue sozialer Bewegungen und dem wachsenden Umweltbewusstsein, verbesserte sich das Image des Fahrrads. Das Auto behielt zwar seine Bedeutung als Statussymbol, aber die Vorteile des Radfahrens fielen stärker ins Gewicht. Und zwar in mehrfacher Hinsicht: Krankenkassen propagierten aus gesundheitlichen Gründen, öfter Rad zu fahren. Angesichts von Staus und nicht ausreichenden Parkmöglichkeiten in den Innenstädten zeigte sich das Rad zumindest für Strecken von bis zu fünf Kilometern dem Auto oft als überlegen. Welche Rolle das Fahrrad inzwischen für die Verkehrsentwicklung großer Metropolen hat, zeigt die Ausstellung am Beispiel von London, Los Angeles und Kopenhagen.

Hamburg war hier keineswegs Vorreiter. Erst 1981 wurde hier der ADFC Nordmark gegründet, der die Interessen der Radfahrer bei der Verkehrsplanung stärker ins Spiel brachte. Während noch 1957 in Hamburg Radfahren in Grünanlagen verboten wurde, ging es nunmehr darum, Radwege anzulegen und auszubauen. Die Politik machte Versprechungen, die nicht immer eingehalten wurden. 2001 stoppte der Beust-Schill-Senat das Veloroutenkonzept, das erst seit 2008 wieder fortgesetzt wird. Ein großer Schritt war das 2009 gestartete Leihsystem StadtRad Hamburg der Bahntochter DB Rent. Inzwischen umfasst es 1650 Räder, die an 129 Stationen in Hamburg entliehen und zurückgegeben werden können. Mit jährlich mehr als zwei Millionen Nutzungen ist es das bundesweit erfolgreichste System. „Vor dem Hintergrund eines wachsenden Bewusstseins für Gesundheit, Nachhaltigkeit und Umweltschutz sowie zunehmender Verkehrs- und Mobilitätsproblemen in Großstädten erfährt das am meisten genutzte Verkehrsmittel der Welt eine Renaissance“, heißt es in der Ausstellung, in der das Rad auch als Lifestyle-Produkt vorgestellt wird. So sind in einem eigenen Kabinett Fahrrad-Produkte zu sehen: Lampen, Sitzmöbel, Beistelltische, Bekleidung und Schmuck; auch Künstlerisches, manchmal auf zunächst irritierende Weise: So steht am Eingang der Fahrradporsche „Ferdinand GT3 RS“ des österreichischen Künstlers Hannes Langeder, auf den ersten Blick ein originaler Sportwagen, allerdings in leichtester Bauweise, ohne Motor, dafür mit Pedalen für Fahrer und Beifahrer.

Wer in der Ausstellung selbst radeln möchte, kann einen Simulator nutzen oder sich – unter Beachtung notwendiger Sicherheitsaspekte – auf ein Hochrad schwingen. Zelebriert die Schau den Sieg des Fahrrads auf ganzer Linie? „Darum geht es uns nicht“, sagt der Kurator, der die Nachteile des Fahrrads keineswegs verschweigt: „Als Radfahrer ist man der Witterung ausgesetzt, was sowohl im Winter als auch im Sommer unangenehm sein kann. Aber das ändert nichts daran, dass das Fahrrad das Fortbewegungsmittel der Stunde ist und eine große Zukunft hat.“

Das Fahrrad. Kultur, Technik, Mobilität. 9.5.2014 – 1.3.2015, Museum der Arbeit, Wiesendamm 3, Mo 13–21 Uhr, Di–Sa 10–17, So 10–18 Uhr. Begleitbuch: Mario Bäumer (Hrsg.): „Das Fahrrad. Kultur, Technik, Mobilität“, Junius Verl., 216 S., 24,90 Euro