Eine Wiege des deutschen Kinos nach 1945 stand in den Filmstudios in Bendestorf, einer Gemeinde in der Nordheide. Jetzt soll eine ständige Ausstellung an die Glanzzeiten erinnern.

Vor Kurzem endete die Berlinale, und der Goldene Bär ging für einen finsteren Krimi nach China. In einem momentan sehr beliebten deutschen Film beißt ein Frettchen Matthias Schweighöfer in die Junggesellen-Kronjuwelen. In Bendestorf, knapp 30 Kilometer südlich vom Hamburger Stadtzentrum, dauert die für Bendestorf wichtigste Kinosensation aller Zeiten etwa zwei Sekunden und liegt mehr als ein halbes Jahrhundert zurück.

Einige Augenblicke nur war die 25-jährige Hildegard Knef hier anno 1950 splitterfasernackt gefilmt worden, für das ansonsten eher sämige Melodram „Die Sünderin“. Welche Aufregung deswegen durch die noch sehr junge und sehr prüde Bundesrepublik tobte, lässt sich heute niemandem mehr vermitteln, der per Smartphone in zwei Sekunden ganz andere Filmszenen abrufen kann.

So gesehen, ist ein Besuch in Bendestorf auch eine Geschichtsstunde über Kultur und Moral, Sitte und Anstand im zertrümmerten Nachkriegsdeutschland, das endlich wieder amüsiert und zum Träumen und Staunen verführt werden wollte. Rund 100 Spielfilme wurden ab 1947 hier gedreht. Sehr viele davon sind inzwischen vergessen, einige wohl auch verdient, weil sie brave Gebrauchskunst waren und nicht für die Cineasten-Ewigkeit gedacht. Heile-Welt-Kintopp und Nierentisch-Dramen, Aufrichtendes, Gutgemeintes.

Über „Der blaue Nachtfalter“ lästerte der „Spiegel“ 1959: „Aus einem Drehbuch, dessen dreist-gestümperte Groschenheftwelt bei totaler geistiger Armut mit Gefühlssurrogaten versehen ist, hat Wolfgang Schleif einen notdürftigen Film gebosselt, der es Alt-Tragödin Zarah Leander erlaubt, aufs Neue die tränenunterlaufene Stimme zu erheben.“ Wenig später drehte Götz George das Kriegsgefangenendrama „Der Teufel spielt Balalaika“. Marika Rökk, die Lady Gaga der Film-Operette, gab 1951 neben Johannes Heesters „Die Csardasfürstin“, Peter Lorre, als Schauspieler ein Weltstar, führte seine einzige Regie bei „Der Verlorene“. Hans Albers, Heinz Rühmann, Ruth Leuwerik, Will Quadflieg – wer in der Nordheide war, galt als in. Sogar der „Psycho“-Star Anthony Perkins war in Bendestorf, 1991 noch, für „Der Mann nebenan“. Er spielte, kaum überraschend, einen Psychopathen.

Man muss nicht jeden dieser Filme kennen und diese Zeitdokumente auch nicht für wichtiger halten, als sie sind. Aber dennoch: Bendestorf war einmal eine bedeutende Wiege des deutschen Nachkriegskinos und Heimat der Junge Film-Union, und kein Etikett klebt hartnäckiger an dieser Dorfgeschichte als der Kunstbegriff „Heide-Hollywood“. Das Aroma der großen, weiten Welt und der Nachkriegsmuff eines Kuhdorfs – aus solchen Gegensätzen könnte man mit einem guten Drehbuch glatt einen Film-Film machen.

An das, was hier mal war, erinnert momentan nur eine rührende Andenkensammlung im ersten Stock der Gemeindeverwaltung: Filmplakate in verblassten Farben, antike Schneidetische, Drehbücher, Kostüme, anmutig inszenierte Schauspielerfotos, sogar einige Bilder von John Lennon, geschossen vom Hamburger Zeitzeugen Günter Zint. Lennon war für Probeaufnahmen in Bendestorf gewesen, für Richard Lesters „Wie ich den Krieg gewann“, einen Anti-Kriegsfilm, der dadurch bekannt wurde, dass ein Beatle mitwirkte, ohne Beatles-Songs zu singen.

„Die Filme an sich stellen einen zeitgeschichtlichen Wert dar“, sagt Walfried Malleskat. Malleskat ist examinierter Kunstpädagoge, er hat vor einigen Jahren den Förderverein des Filmmuseums gegründet. 60 Mitglieder bei etwa 2400 Einwohnern, das ist beileibe keine schlechte Quote. Die Liebe zum Film sitzt tief bei ihm. Beim Erklären von historischen Zusammenhängen holt er sehr weit aus, und das Wort „Heide-Hollywood“, auf das Journalisten von auswärts so stehen, mag er nicht so richtig. „Heidefilmchen“ seien hier erst später entstanden, korrigiert er dieses Klischee; die Filme von hier hätten in der Ära Rolf Meyer eine ganz eigene Identität geschaffen. Malleskats persönliche Filmemacher-Favoriten heißen Truffaut, Rohmer, Altman oder Polanski. Eine andere Liga, ganz andere Welten. Doch das hier, das ist für ihn eine andere Herzensangelegenheit.

Neben dem Gemeindezentrum, unter einem liebevoll geschnitzten Wegweiser zum Bergcafé Pudelbar, steht der Nachbau einer kleinen Kanone, als Erinnerungsstück an die „Militärklamotte“ „Der lustige Krieg des Hauptmann Pedro“. 1959 gedreht, mit dabei war neben dem Kabarettisten Wolfgang Neuss auch ein gewisser Boy Gobert, der zehn Jahre später Intendant des Hamburger Thalia Theaters wurde. „Von der Kanone sind nur noch die Metallräder echt“, amüsiert sich Malleskat. Die ersten zwei Filme hatte Meyer, weil nichts anderes da war, im Tanzsaal vom „Schlangenbaum“ gedreht, der heißt nun „Schlangenkeller“ und beherbergt einen Swingerclub.

Es waren sehr rustikale Gründerzeiten kurz nach dem Kriegsende, als ein junger Filmbegeisterter namens Rolf Meyer aus Berlin in das Heidedorf kam, um großes Kino und gutes Geld zu machen. Vielleicht kam der Drehbuchautor nur mit einem Fahrrad und einigen Habseligkeiten, vielleicht hatte Meyer durch Schauspieler bei der Ufa von Bendestorf erfahren. Auf jeden Fall aber legte er hier, im wilden Westen los. Filme „mit jungen Menschen und gegenwartsnahen Themen“ wollte Meyer drehen und brachte Bendestorf damit neben Berlin, München und Göttingen auf die deutsche Film-Landkarte.

Die Stunde null machte in der britischen Besatzungszone vieles möglich, Babelsberg war ja in russischer Hand. Um die ersten Requisiten zusammenzuzimmern, klauten Meyers Kulissenbauer die Nägel aus den Zäunen der Umgebung, was die Bendestorfer Bauern wenig charmant fanden. In direkter Nachbarschaft der Gastwirtschaft „Zum Schlangenbaum“ baute sich Meyer eine erste Halle. Das Nachfolgemodell, das heute noch steht, wurde mit bestem Stahl von Blohm + Voss errichtet. Eine Hypothek auf eine Kino-Ewigkeit hätte das sein können.

Als Meyers Laden richtig brummte, waren etwa 200 Menschen in den Studios tätig. Manchmal wurden drei Filme parallel im Traumfabrikchen gedreht. Gut 14.000 Quadratmeter Fläche, und wenn man für einen Film Jahrhundertwende-Paris benötigte, baute man das eben nach. Etliche Schauspiel-Stars gaben sich die Klinke in die Hand. Anfangs quartierten sie sich im Ort ein und sorgten so für einige kleine Wirtschaftswunder bei örtlichen Gastronomen. Später kamen die Kino-Künstler per Taxi oder Chauffeur aus nobleren Hamburger Hotels. Auch ihre Fans trudelten in Bendestorf ein. Die Bendestorfer machten sich als Statisten nützlich und bestaunten die Prominenz. „111 Folgen ,Familie Schölermann‘!“, erinnert Malleskat. Und sein Unterton sagt: Wer kennt das heute noch, wo die Serien in DVD-Boxen oder gleich übers Internet ins Wohnzimmer kommen.

Doch die Filmbranche veränderte sich, und Bendestorf konnte nicht mehr mithalten. Zu klein waren die Hallen, zu gestrig das Konzept. Auch der kleine Aufschwung durch Sexfilmchen wie „Das gelbe Haus am Pinnasberg“ (1969) konnte das Schicksal nicht aufhalten. Als die Filmemacher gingen, kamen die Leute vom Fernsehen. In den Bendestorfer Kulissenlagern vermodern noch Reste von „Rudi Carrell Shows“, auch RTL ließ hier Spaßiges drehen. Und als die Fernsehleute ihre Sachen packten, kamen die Werbefilmer. Als die sich verabschiedeten, kam schleichend das Aus.

Ein Todesstoß für Bendestorfs große Vergangenheit war die Entscheidung, die ARD-Vorabend-Seifenoper „Rote Rosen“ in einer Industriehalle in Lüneburg zu drehen. „Nur aus Mitleid kommen wir nicht“, heißt es mittlerweile aus dem nahen, fernen Hamburg, wenn es um Drehtage gehen könnte. Heutzutage werden komplexe Kulissen schon längst nicht mehr gezimmert, sondern im Rechner konstruiert.

Die vorerst letzte Produktion, die sich nach Bendestorf locken ließ, war „Eine mörderische Entscheidung“, jener ARD-Film, in dem Matthias Brandt einen Bundeswehroffizier in Afghanistan spielte. In der Halle A1 wurde im Sommer 2012 für einige Einstellungen afghanische Wüste simuliert. Danach verlöschten die Lichter wieder. Bislang endgültig.

Seit einigen Jahren schon ist nicht klar, ob und wie es mit den Studiobauten weitergeht. Die jetzigen Besitzer des Areals hoffen auf einen Abriss der großen Halle und lukrativen Wohnungsneubau an dieser Stelle. Die Filmfreunde würden gern ein Nebengebäude für ihre Zwecke nutzen, wo jahrelang im VOX Klangstudio „Popularmusik“ (Malleskat) aufgenommen und abgemischt wurde. Roger Whittaker stand hier vor den Mikros, ebenso die Country-Hanseaten von Truck Stop. Aber auch das ist jetzt vorbei. Die Räume stehen leer und verstauben. Das Film-Geisterstädtchen ist noch etwas größer geworden.

Doch wenn alles klappt mit den ehrgeizigen Plänen und die geschätzten 400.000 Euro Investitionskosten zusammenkommen, wird es irgendwann ein richtiges Filmmuseum auf dem Studiogelände geben. An diesem Dienstag will sich der Gemeinderat mit dem Thema befassen. 2000 bis 5000 Besucher jährlich hofft man damit nach Bendestorf zu holen, sagt Malleskat.

Sein Herz soll das frühere Produzentenkino werden, in dem die Macher frisch gedrehtes Material besichtigten. Rund 60 Kinostühle sind schon da, sie sind Reliquien aus vergangenen Hamburger Kinozeiten, aus den Filmtheatern Savoy und Streit’s. Eine Leinwand kommt aus dem Fama, ebenso ein alter Vorhang. An der Seitenwand links fehlt ein Teil des Parketts. „Hier war der Barbereich.“ So gediegen und gemütlich ging es zu, damals. Beim Gedanken daran riecht es, ganz dezent, nach Dinosaurierfriedhof.

Im Nebenraum sind zwei Projektoren aus dem Koralle-Kino geparkt, im Saal steht ein weiteres Museumsstück, ein TK-35-Projektor, Carl Zeiss Jena, 40er-Jahre. „Das hat den Menschen geholfen“, sinniert Malleskat. In den Kneipen seien, weil nichts anderes da war, Bettlaken aufgespannt worden, wenn Kinoabend war und die Projektoren ins Dunkel zu zaubern begannen. „Wenn die mal wieder rattern“, sagt Malleskat, „dann sind wir hier happy.“