In Los Angeles wurde eine Hindemith-Einspielung des NDR-Orchesters unter Dirigent Christoph Eschenbach mit einem Grammy ausgezeichnet

Hamburg. Klingt so eine Glückssträhne? Beim NDR Sinfonieorchester scheint zurzeit einfach alles rundzulaufen. Thomas Hengelbrock, der nicht mehr ganz nagelneue Chef, hat sich und seine Musiker längst in die Herzen des Publikums dirigiert. Dazu kommen Gast-Engagements vom Feinsten, stupendes Niveau und ein Gemeinschaftsgeist, den man nicht nur hören, sondern geradezu fühlen kann.

Der jüngste Coup: In der Nacht zum Montag hat das Orchester im fernen Los Angeles einen Grammy eingeheimst, Kategorie: „Best Classical Compendium“. Okay, das NDR Sinfonieorchester ist nicht Beyoncé, und die etwas abgelegene Kategorie gehörte auch nicht zu denen, die vor der gesammelten Prominenz der Musikwelt feierlich ausgerufen werden. Die mit dem Preis verbundene Ehre ist aber umso größer – denn das Orchester bekommt ihn nicht für die 87. Einspielung von Beethovens Fünfter oder Mozarts „Kleiner Nachtmusik“. Nein, Christoph Eschenbach nahm vergleichsweise Spezielles auf: Werke von Paul Hindemith (1895–1963), darunter das Violinkonzert mit der Japanerin Midori als Solistin.

Mit Eschenbach verbindet das NDR Sinfonieorchester eine lange, intensive und fruchtbare Beziehung; von 1998 bis 2004 war er Chefdirigent. Im Herbst 2012 konnte sich das Hamburger Publikum bereits von der Farbigkeit, der Originalität und dem Esprit der Hindemithschen Musik überzeugen. Da dirigierte Eschenbach die „Singonischen Metamorphosen nach Themen von Carl Maria von Weber“ und das Violinkonzert nämlich in der Laeiszhalle. Die Solistin war auch damals Midori. „Ich mag Hindemith sehr gern“, sagt sie. „Seine Musik ist eine wunderbare Mischung aus romantischer Schönheit und Humor.“ Vor wenigen Wochen erst hat Midori bei einem Kammermusikprogramm in Hamburg ihre Tiefsinnigkeit und Perfektion vorgeführt.

Hindemith setzte sich zu Lebzeiten zwischen viele künstlerische Stühle

Berufenere Interpreten, prominentere Namen könnte man sich für die Aufnahme also kaum wünschen. Die braucht es auch für dieses Unterfangen. „Hindemith, her damit, weg damit“, lautet ein ebenso frecher wie ungerechter Spruch über den Hochbegabten aus Hanau, der sich mit seiner eigenwilligen Tonsprache und seiner unbeugsamen politischen Haltung schon zu Lebzeiten in vielerlei Hinsicht zwischen die Stühle setzte. „Das Orchester wollte Werke einspielen, die man selten hört“, sagt Andrea Zietzschmann, die frischgebackene Klangkörperchefin des Senders. „Hindemith schrieb hervorragend, er ist aber nicht zum Kernrepertoire geworden, weil er von den Orchestern nicht genug gepflegt wurde. Er ist sperrig zu hören, weil er die Standards nicht bedient und mit den traditionellen Formen bricht.“

In den„Sinfonischen Metamorphosen“, einem Feuerwerk an rhythmischen Einfällen und Virtuosität, übernimmt jede Gruppe des Orchesters solistische Aufgaben. Und bei dem dritten Stück der CD, der „Konzertmusik für Streichorchester und Blechbläser op. 50“, treten die Blechbläser gegen die Streicher an. Dafür gibt es im Konzertleben kein geläufiges Vorbild. Diese Eigenschaft macht es für den Komponisten manchmal schwer – kurioserweise gerade bei geübten Hörern, die bestimmte musikalische Abläufe erwarten.

Man kann sich natürlich fragen, warum es der eine Komponist zum Allzeitstar bringt und der andere nicht. Hindemith war als klassisch Moderner schon zu Lebzeiten gegenüber den Vertretern der Avantgarde wie Karlheinz Stockhausen und Pierre Boulez, György Ligeti und Mauricio Kagel in die Defensive geraten. Er, der einst selbst die Donaueschinger Musiktage mitveranstaltet hatte und später von den Nationalsozialisten als entarteter Künstler verfemt worden war, polemisierte gegen die sich zusehends aufsplitternden Richtungen der Neuen Musik. Eine Polemik, die die angegriffenen Neuerer erwiderten. Mit gleicher Schärfe und so selbstbewusst und lautstark, wie sie es sich qua Position im Musikbetrieb leisten konnten.

Auch Hindemiths 50. Todestag im Jahre 2013 hat keine Rehabilitation auf den Spielplänen bewirkt. Das NDR Sinfonieorchester widmete ihm einen Programmschwerpunkt, der sich auch diese Saison noch durch die Sinfonie- und Kammerkonzerte zieht, aber damit steht es ziemlich allein da. „Von uns als öffentlich-rechtlicher Anstalt kann man erwarten, dass wir solche Programme machen“, sagt Zietzschmann. „Wir haben eine Verpflichtung, auch abgelegeneres Repertoire zu pflegen.“

Und die Mittel, zum Glück. Das größere Risiko ist bei der Aufnahme das kleine, feine finnische Label Ondine eingegangen. Es hat sich sehenden Auges auf eine Einspielung eingelassen, die aller Wahrscheinlichkeit nach kein Kassenschlager wird.

Aber vielleicht kommt jetzt dank Grammy alles anders. Dass die Auszeichnung in insgesamt 82 Kategorien verliehen wird, ändert weder an der Ehre noch an der Qualität der Einspielung etwas. Zumal klassische Musik nur in einer Handvoll der Kategorien berücksichtigt wird.