Frank Castorf eröffnet die Lessingtage am Thalia Theater mit einer furios delirierenden Version von Célines „Reise ans Ende der Nacht“

Hamburg. Es ist alles da, was man von einem Castorf-Abend ersehnt und fürchtet. Der Bretterverschlag, der bei Bühnenbildner Aleksandar Deníc ein verbauter Slum aus Holz und Wellblech samt Notarztwagen ist, eine Großküche der Malaria-geschwängerten Hitze, in der Finsteres aufgekocht wird. In der der Zuschauer unerbittlich jedes Detail von einer Kamera vergrößert erhält. Die krakeelenden, schwer dauererregten, aber kraftvollen Schauspieler, allen voran Bibiana Beglau, die in der Rolle des Armenarztes Ferdinand Bardamu traumatisiert von den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs im Kongo zwanghaft ums eigene Überleben ringt.

Wir sind mitten im ersten Hamburger Frank-Castorf-Gastspiel seit 13 Jahren, bei der programmatischen Eröffnung der diesjährigen Lessingtage mit dem Schwerpunkt Afrika am Thalia Theater. Bei Louis-Ferdinand Célines finsterem Roman „Reise ans Ende der Nacht“, dessen 700 Seiten der Berliner Volksbühnen-Chef auf viereinhalb Stunden Spielzeit eingedampft hat. Mit seinen erprobten Mitteln der postdramatischen Hysterie arbeitet sich Castorf in dieser Produktion, die am Residenztheater München entstand, am postkolonialen Erbe ab.

Er tut dies gewohnt grell und manchmal auch todtraurig. Mitten im afrikanischen Busch will eine aufgekratzte Party-Gesellschaft eine halb tote schwarze Schöne ohne Narkotika operieren. Kurz darauf zerfasert der Abend, ganz wie Célines seinerzeit skandalöse, für destruktiv und vulgär befundene Romanvorlage. Beglau funkelt und irrlichtert als seelenwunder Erzähler, als Alter Ego des Autors (dessen Antisemitismus taucht nur im Bühnenbild auf, in dem „Liberté, Egalité, Fraternité“ in Eisenlettern wie über einem Lager prangt), Plantagenaufseher, Hygieniker und Armenarzt und spielt gekonnt mit ihrer Androgynität. Auf ihrem paranoiden Überlebenstrip treibt sie von Afrika über New York ins moribunde Detroit und weiter zu den Armen von Paris. Überall sterben Liebesdienerinnen unter ihren Händen weg.

Der einzige Hoffnungsschimmer in Gestalt der Detroiter Prostituierten Molly verflüchtigt sich, da die sich lieber mit Léon Robinson, einem Wiedergänger aus Kriegstagen, vereint. Britta Hammelstein legt als wie fürs Fernsehballett aufgerüschte Madelon, die sich in ihren Gefühlen für den von dem grazilen Frank Pätzold gespielten Ferdinand Bardamu um Kopf und Kragen redet, eine wirklich tolle Einlage hin. Wie üblich bei Castorf variieren die Rollenzuschreibungen. Jeder spielt hier – beinahe – jeden irgendwann einmal.

Nicht alle Zuschauer hielten bis zum Ende durch, um zu erleben, wie die Akteure sich in der letzten Stunde in immer neue Wutwasserfälle hineindelirieren. Das seltsam schale imperiale Überlegenheitsgefühl, in Castorfs Céline-Version ist es längst einer Ohnmacht und einer Selbstbetäubung gewichen. Durch diese kaputte Welt stakst die wundervolle Soulsängerin Fatima Dramé als „Engel der Verzweiflung“, und es erklingt Heiner Müller. Auch der Volksbühnenchef weiß, dass die globalisierte Wirklichkeit nach neuen Methoden verlangt, sie zu deuten. Die „Reise ans Ende der Nacht“ zählt auf jeden Fall zu den stärkeren Castorf-Abenden der jüngeren Vergangenheit.

Das Thema Postkolonialismus findet sich auf den Programmen der wichtigsten europäischen Festivals von Berlin bis Avignon und nun auch aktuell bis zum 9. Februar bei den Hamburger Lessingtagen. Künstler erzählen Geschichten aus ihren Heimatregionen, von Bürgerkriegen, Diktatur und Apartheid. Die postkolonialistische Theorie versucht die neuen Beziehungen zu beschreiben. Ausgehend von der Überzeugung, dass die Auswirkungen der Kolonisation, also ihre Ausbeutungs- und Machtverhältnisse, nicht überwunden wurden. Und die bestehende Abhängigkeit von der kapitalistischen Welt damit zu den heutigen Krisen entscheidend beiträgt.

Einen Krisenherd hat Frank Castorf mit diesem Gastspiel symptomatisch vorgeführt. Die Lessingtage haben gerade erst begonnen. Die Reise ans Ende der Nacht ist lange nicht zu Ende.