Die ARD zeigt mit “Ein blinder Held“ ein bemerkenswertes Dokudrama über den Bürstenfabrikanten Otto Weidt, der zahlreiche jüdische Mitarbeiter vor dem Tod bewahrte.

Fangen wir vielleicht mit einer 91-jährigen kleinen Frau an, die am Anfang jener Heldengeschichte steht, die Kai Christiansen jetzt in einem dokufiktionalen ästhetischen Kraftakt großartig verfilmt hat. Inge Deutschkron heißt die kleine Frau.

1922 in Finsterwalde geboren. Eine Frau, die überlebt hat, und die nun seit gut 25 Jahren, seit sie, die Israelin, wieder nach Deutschland kommt, einer neuen deutschen Jugend in Büchern, in unendlichen vielen Gesprächen Zeugnis davon ablegt, wie es war, als die Deutschen Berlin „judenfrei“ machen wollten – zum Beispiel, wie viel Angst da war und Schrecken.

Inge Deutschkron erzählt aber auch, dass es im Volk der Duckmäuser und der hinguckenden Weggucker ein paar wahrhaft Aufrechte gab. Die ihr Leben riskierten, die irre Dinge taten, weil sie den Terror gegen die Menschen in ihrem Land nicht widerspruchslos, nicht tatenlos hinnehmen wollten, Menschen wie der Berliner Bürsten- und Besenfabrikant Otto Weidt, dem die ARD heute das Dokudrama „Ein blinder Held“ widmet.

Inge Deutschkron sitzt – befragt von Sandra Maischberger, die als Fragende gar nicht in Erscheinung und hinter die Geschichte zurücktritt, eine inzwischen unübliche Form der Zurückhaltung, die den Film schon unmittelbar sympathisch macht – wohl ausgeleuchtet in einem schönen Zimmer. Und erzählt von Otto Weidt, den diejenigen, die er versuchte zu retten, Papa Weidt nannten. Man hört ihr gerne zu.

Sie hat die Fähigkeit, den Schrecken lebendig, die Figuren ihrer Geschichte wirklich werden zu lassen, ohne dass er unerträglich wäre zum Zuhören und ohne dass die Heldengeschichte, die sie wachhält, übermäßig heldisch würde. Es ist die Geschichte von drei Menschen, die über sich hinauswuchsen. Und von einer Liebe in Zeiten des Gebrauchtwerdens, die scheitert.

Die Erzählung der Inge Deutschkron von heute ist eine von drei Ebenen dieses höchst kunstvoll und effektiv zusammengebauten Films. Immer wieder gleiten diese Ebenen manchmal kaum merklich und organisch übereinander: Inge Deutschkrons Erinnerungen, schwarz-weiße, nachträglich zum Teil mit Geräuschen versehene Originalaufnahmen aus dem Berliner Alltag der Jahre zwischen 1941 und 1943, von denen der Film erzählt.

Gut 70 Prozent der Spieldauer nimmt die inszenierte Rekonstruktion dessen ab, was Otto Weidt, der Direktor des „kriegswichtigen“ Besenbindebetriebs in Berlins Mitte, tat, wie er liebte, wie er versuchte, die junge Alice Licht zu retten und die anderen meist blinden jüdischen Mitarbeiter, für die er sich verantwortlich fühlte.

Otto Weidt war kriegsblind, ein Pazifist, Anarchist, gelernter Tapezierer, ein Selfmadefabrikant. Aber die Vorgeschichte interessiert uns nicht. Das erste, was Inge Deutschkron über den Blindenwerkstättenleiter sagt, ist, dass er ein Hochstapler gewesen sei, einer, der ein Wolkenkuckucksheim – ein erfolgreiches und schützendes – um sich herum errichtet habe.

Edgar Selge ist Otto Weidt, ein Charmeur, ein Poseur, ein gnadenloser Trickser, ein blinder Spieler auch, hochgradig korrupt, Transparency International müsste sein Treiben höchst verwerflich finden, würde es nicht dem Überleben eines Dutzend meist blinder, jüdischer Handarbeiter dienen.

Weidt betreibt eine Art Schwarzmarkt vor der Erfindung des Schwarzmarkts in Deutschland, verkauft seine kriegswichtigen Besen an Karstadt, das ihn dafür mit hochwertigen Naturalien entlohnt, mit denen er dann wiederum Gestapo-Bonzen besticht, wenn der wieder mal seinen Laden hat überfallen und die Juden des Papa Weidt hat abführen lassen. Das Leben eines Juden ist schon mehrere Flaschen Cognac wert.

Edgar Selge macht das manchmal sehr Laute dieses Otto Weidt sehr fein, orchestriert es eindrucksvoll. Zeigt, wie Weidt es genießt, dass er gebraucht wird, dass er bewundert, angehimmelt wird, dass er mit der Obrigkeit spielen kann, wie brüchig aber auch dieses Leben voller Husarenstücke war, wie zwiespältig.

Ohne Inge Deutschkron wäre Otto Weidt mit einiger Sicherheit vergessen worden

Inge Deutschkron war dabei. Sie hat in Weidts Vorzimmer gearbeitet. Sie hat gesehen, wie Alice Licht, die 25-jährige Berliner Kaufmannstochter bei, Papa Weidt unterkam. Sie hat gesehen, wie aus Bewunderung so etwas wie Liebe wurde. Eine Liebe, die Weidt dazu brachte, in höchster Not das Äußerste zu wagen. Man lernt en passant und anschaulich aus allen drei Blickwinkeln viel über den hauptstädtischen Alltag im Krieg, über die alltägliche Verfolgung, über die alltägliche Verschlechterung der Lebensumstände. Darüber, wie Weidt immer krampfhafter versucht, seine Blindenwerkstatt abzuschirmen gegen die Welt drumherum. Wie die Bedrohung immer größer wird. So groß, dass Weidt Verstecke in seine Werkstatt bauen lässt, um seine Leute unsichtbar zu machen. Wie die Unterschlupfe durch einen „Greifer“, einen jüdischen Schergen der Nazis, aufflogen und ausgehoben wurden.

Sehr dezent geht Kai Christiansen mit seiner prekären Liebesgeschichte um, die keine Erfindung eines sensationslüsternen Drehbuchschreibers, sondern schiere Wirklichkeit war. Es wird gezeigt, wie die Nähe wächst, wie Hände aufeinandergelegt werden, Edgar Selge und die in Zwischentönen hochbegabte Henriette Confurius als Alice tauschen keusche Küsse aus, es muss mehr gewesen sein, aber das sieht man nicht.

Was man sieht, ist Ottos Frau Else (geradezu selbstvergessen, gebrochen heroisch: Heike Hanold-Lynch), die dritte Heldin in diesem Fernsehspiel, die das alles erträgt, die ganzen Otto-Weidt-Groupies, die sie schon kennt, und nun diese Alice, die ihm so nah kam wie keine. „Otto“, sagt sie mal prophetisch, „der Wahnsinn wird nicht ewig dauern, dann wird sie dich verlassen, dann braucht sie dich nicht mehr.“

Aber bevor der Wahnsinn zu Ende war, musste sich Otto Weidt, der blinde Liebende, erst einmal auf eine Odyssee begeben. Mittels massiver Erpressung seines Gestapobonzen, verhindert er, dass Alice nach Auschwitz kommt. Die Lichts fahren ins KZ Theresienstadt, da ist es zwar auch mörderisch, aber menschlicher, überlebenswahrscheinlicher. Dann wirft Alice – damit geht Kai Christiansens Film in einer Art Vorblende los – eine unfrankierte Postkarte aus ihrem KZ-Transportzug nach Auschwitz. Otto weiß, was das bedeutet, fährt nach Auschwitz, erreicht da nichts, weil Alice in Christianstadt/Niederlausitz sein soll, wo die Nazis eine Munitionsfabrik mit angeschlossenem KZ unterhielten. Da fährt er hin. Unterwegs kauft er Leute. Wickelt sie um den Finger. Er scherzt sie sich zurecht. „Ich bin zwar blind“, ist so ein Spruch, „dafür hör ich umso schlechter.“ Er kriegt am Ende Alice frei. Und dann ist der Wahnsinn vorbei.

Alice hat überlebt. Sie ist bei Otto und Else. Und hat ihre Einreisegenehmigung in die USA bekommen. Sie will weg, weil sie keine Heimat mehr hat, Deutschland hat ihre Eltern ermordet, und überall sind noch die alten Nazis. Otto ist erschüttert, er will ihr nach in die USA, das wär doch schön. „Ja“, sagt sie. Es ist eines der endgültigsten, ernüchterndsten Ja der jüngeren Fernsehgeschichte. Otto wird verlassen, Otto wird nicht mehr gebraucht. Otto Weidt weint. Wer davon (wie von dem ganzen Film) nicht gerührt ist, gehört entfreundet.

Die Erinnerung an Otto Weidt in Deutschland, der zwei Jahre nach Kriegsende an einer Herzerkrankung, an gebrochenem Herzen womöglich starb, dem in Yad Vashem als einem der Gerechten unter den Völkern seit 1971 gedacht wird, ist übrigens kein Ruhmesblatt der deutschen Vergangenheitspolitik. Seine Witwe erhielt sehr viel weniger Rente als mancher Altnazi nach dem Krieg.

Ohne Inge Deutschkron wäre der Mann mit einiger Sicherheit vergessen worden. Dank Inge Deutschkron gibt es seit acht Jahren das Museum Blindenwerkstätten Otto Weidt in Berlin-Mitte. Und jetzt gibt es „Ein blinder Held“. Ein längst überfälliges Epitaph. Ein ganz fabelhafter Film.

„Ein blinder Held – Die Liebe des Otto Weidt“, heute, 21.45 Uhr, ARD