Das Mittelalter-Epos startet Mittwoch in den Kinos. Die Romanvorlage wurde in Deutschland ein Bestseller. Nicht immer nimmt es der Autor darin mit der Geschichte genau.

In den 80er-Jahren praktizierte er ganz oben in den Bestsellerlisten. Mit dem „Medicus“ gelang Noah Gordon ein Welterfolg. Allein in Deutschland wurde das 1986 erschienene Buch sechs Millionen Mal verkauft. Es war zugleich einer der ersten großen historischen Romane, die mittlerweile längst ein eigenes erfolgreiches Genre bilden. Buchhandlungen räumen dafür Extratische frei, Fans finden Informationen im Portal www.histo-couch.de. „Der Medicus“ ist der erste und mit Abstand erfolgreichste Teil einer Trilogie, zu der auch noch die Romane „Der Schamane“ und „Die Erben des Medicus“ gehören. Jetzt ist er von Philipp Stölzl aufwendig verfilmt worden. Tom Payne, Olivier Martinez, Ben Kingsley und Stellan Skarsgård sind in den Hauptrollen zu sehen, aber auch der Hamburger Fahri Yardim und Elyas M’Barek spielen mit.

Gordon erzählt eine Geschichte aus dem Mittelalter, die im 11. Jahrhundert in England beginnt. Rob ist noch ein kleiner Junge, als seine Mutter stirbt und ihn als Waisen zurücklässt. Ein Bader nimmt den Neunjährigen auf, zeigt ihm die Grundlagen der Heilkunst und auch sonst noch ein paar nützliche Tricks. Als Rob größer wird, macht er sich auf den Weg nach Isfahan in Persien. Dort will er an der Akademie des berühmten Ibn Sina studieren, den die Perser den „Arzt aller Ärzte“ nennen. Er ist eine historische Figur im ansonsten überwiegend fiktiven Gordon-Kosmos. Im Film verkörpert Kingsley den Gelehrten. Wer war dieser ungewöhnliche Mann, über den Ayatollah Khomeini in einem Brief an Michail Gorbatschow schrieb: „Wenn Eure Exzellenz die Forschungen zu solchen Themen anleiten wollte, sollte Sie veranlassen, dass die Studierenden anstelle der westlichen Philosophen die Schriften von al-Farabi und Ibn Sina zu Rate ziehen?“

Der Orient war dem Abendland damals im Bereich der Wissenschaft überlegen

Ibn Sina war ein Universalgelehrter, der sich nicht nur in der Medizin, sondern auch in der Philosophie, der Mathematik, der Geologie und Astronomie auskannte. „Seinen Lebensunterhalt verdiente er als Arzt. Er hat sich aber als Philosoph gefühlt“, sagt Gotthard Strohmaier. Die Medizin habe er nur nebenbei betrieben. „Er hat gesagt, das sei keine schwere Wissenschaft.“ Strohmaier war Professor am Seminar für Semitistik und Arabistik der Freien Universität Berlin. Er kennt sich in der Zeit und der Region, in der der „Medicus“ spielt, gut aus. Über den Mediziner und Philosophen Ibn Sina hat er eine Biografie geschrieben, die den Titel des latinisierten Namens des Gelehrten trägt: „Avicenna“. Fremde Namen wichtiger Gelehrter wurden damals gern „mundgerecht“ gemacht. Der persische Muslim lebte von etwa 980 bis 1037.

Avicenna war sehr gut vertraut mit den anderen medizinischen Autoritäten des Altertums. Er war weniger ein medizinischer Forscher als ein Praktiker, der Zusammenhänge zwischen den anderen Wissenschaften und der Medizin herzustellen versuchte. Nicht immer war das erfolgreich. Avicenna wurde aber bedeutend, weil er aus dem Wissen seiner Zeit ein Handbuch zusammengestellt hat, den „Kanon in der Medizin“. Der hat an den Universitäten bis in die Neuzeit hinein eine große Rolle gespielt. In der Spitalerstraße findet man übrigens heute ein Avicenna-Ärztezentrum.

Während seiner Zeit in Isfahan bekleidete Avicenna das Amt eines Ministers und hatte Geld zur Verfügung. „Da hat er dann mit seinen Schülern auch Partys gefeiert“, schmunzelt Strohmaier. „Zuerst wurde gelernt, aber dann mussten Musiker kommen, und es wurde Wein aufgetragen. Da spielte auch keine Rolle, dass das ja laut Islam eigentlich verboten ist.“ Avicenna selbst und seine Schüler hätten diese Gelage plastisch beschrieben.

Überhaupt scheint es in Persien damals relativ liberal zugegangen zu sein. „Die Höfe waren verschieden, manche auch orthodox. Aber hinter den Mauern der Paläste nahm man es nicht so genau. Avicenna hat sich auch mit christlichen Ärzten und Philosophen ausgetauscht. Man war tolerant gegenüber Juden und Christen“, sagt Strohmaier.

Zu Lebzeiten von Avicenna war der Orient dem Abendland im Bereich der Wissenschaft überlegen. Die Zeit der Völkerwanderung hatte Europa zurückgeworfen. Bis zum 15. Jahrhundert hielt dieser Zustand an, dann holte der Westen wieder auf. Das hatte auch wirtschaftliche Gründe. Die Textilindustrie war damals die Schlüsselindustrie. Im ägyptischen Alexandria gab es zu Beginn des 15. Jahrhunderts noch 14.000 Webstühle, Mitte des Jahrhunderts waren es nur noch 800. Dann löste Italien Ägypten als Textilienlieferant ab.

Am Ende des Romans kehrt der Protagonist Rob nach vielen Abenteuern in seine Heimat zurück und bringt ein fundiertes medizinisches Wissen mit. Am Ende von „Der Medicus“ schreibt Noah Gordon: „Ein Großteil der Dokumente über die Atmosphäre und die historischen Fakten des 11. Jahrhunderts ist verloren gegangen. Wenn keine oder nur bruchstückhafte Aufzeichnungen vorhanden waren, habe ich meiner Fantasie freien Lauf gelassen; das heißt, es sollte klar sein, dass es sich hier um einen fiktionalen und nicht um einen historischen Text handelt. Mögliche Fehler, große oder kleine, die mir bei dem Bemühen unterliefen, Ort und Zeit möglichst glaubhaft wiedererstehen zu lassen, sind ausschließlich mir zuzuschreiben.“

Es ist nicht verwunderlich, dass diese etwas laxe Einstellung gegenüber den historischen Fakten einem akribisch arbeitenden Wissenschaftler die Haare zu Berge stehen lässt. „Wir wissen sehr viel über Avicenna, er hat sogar eine Autobiografie geschrieben. Aber all das kennt Gordon nicht. Da fantasiert er sich etwas zusammen, was immer peinlich ist. Bei Bismarck würde man so etwas ja auch nicht machen. Warum nimmt der gute Mann nicht irgendeine fiktive Gestalt?“, fragt Strohmaier, der den Roman nicht zu Ende gelesen hat, weil er sich über die vielen Ungenauigkeiten ärgerte.

Gordon schreibt beispielsweise, Avicenna habe in einem großen Krankenhaus gearbeitet. Stimmt nicht, sagt Strohmaier. Er war nie in einem Krankenhaus, sondern Hofarzt. Protagonist Rob muss sich in der Schule des Ibn Sina als Jude ausgeben, weil Christen verfolgt werden. Stimmt auch nicht, sagt der Wissenschaftler. Juden hätten in Persien im Mittelalter anders als die Juden im maurischen Spanien, lediglich eine „gedrückte Randexistenz“ geführt. Man bekomme durch die lebendige Erzählung zwar ein plastisches Bild, aber ein falsches.

Für Leute, die sich für das Mittelalter interessieren und Wert auf Genauigkeit legen, hat er einen Tipp: „Lesen Sie Umberto Ecos ‚Der Name der Rose‘! Das ist Fiktion, spannend, aber da stimmt einfach alles.“

Noah Gordon. „Der Medicus“, Heyne, 845 Seiten, 9,99 Euro

Gotthard Strohmaier. „Avicenna“, C.H. Beck, 184 Seiten, 12,90 Euro