Erlösende Ballett-Premiere: John Neumeiers komplettiertes „Weihnachtsoratorium“ in der Staatsoper mit Standing Ovations gefeiert

Hamburg. Das Ende ist der Anfang: Noch einmal klingt Bachs freudig erregtes „Jauchzet, frohlocket“, jubeln Chor und Trompeten, knallen die Pauken, sausen die Geigen rekordverdächtig durch den Notentext, leuchtet auf der Bühne noch einmal ungezügelte Weihnachtsfreude auf. Fast wirkt diese Rückblende nach gut drei Stunden wie ein hartnäckiges Insistieren auf dem weihnachtlichen Erlösungsversprechen. Alle Zweifel und Fragen werden im festlichen Jubel weggetanzt.

Der Beifall für John Neumeiers Compagnie und seine Choreografie aller sechs Kantaten des Weihnachtsoratoriums ist einhellig. Als der Ballettchef am Ende selbst auf die Bühne kommt, bricht ein Sturm der Begeisterung los – Standing Ovations für ihn und sein neues Meisterwerk. Dabei gibt es von ihm schon seit 2007 ein „Weihnachtsoratorium“-Ballett – die ersten drei Teile. Das komplettierte „Weihnachtsoratorium I-VI“, sagt Neumeier, sei etwas völlig Neues. Es war in der Tat einige Überarbeitung notwendig, um die zweiten drei Kantaten anzufügen.

Denn in ihnen kommen neue Facetten hinzu, die gegenüber dem zentralen Weihnachtsgeschehen eher im Hintergrund stehen: die Beschneidung Jesu, die Ankunft der Weisen aus dem Morgenland, die Kinder des Königs und die Flucht der heiligen Familie. Da wird der Gottessohn zum Menschen und kommt im Alltag derer an, die er erlösen soll – verletzt, hilflos, selbst Flüchtlingskind, angewiesen auf die Hilfe anderer Menschen. Neumeier zeigt: Erlösung ist kein Selbstgänger.

Die wichtigste Veränderung betrifft den stillen Beobachter, Rollenname „ein Mann“, der vom Rand her zuschaut mit seinem kleinen Weihnachtsbaum und mit seiner Mundharmonika trotzige Melancholie verbreitet, bevor er sich von der Freude der Engel und Hirten anstecken lässt.

Neumeier holt die Evangelien-Geschichte weit ins Menschliche hinein. „Die Mutter“ (tief bewegend: Anna Laudere) hat sich mit ihrem Mann aus einer Gruppe von Vertriebenen, Flüchtlingen, Obdachlosen gelöst – Suchende, die sich als Mahnung an die ungelösten Probleme der Welt immer wieder ins Geschehen schieben. Sie braucht Zeit, um den Wirbel, der da um ihr Kind losbricht, zu verarbeiten und zuzulassen, dass die himmlische Eigendynamik ihre Erwartungen vom Muttersein überschreibt. Und um die Furcht vor dem königlichen Kindermord durchzustehen. „Ihr Mann“ (Edvin Revazov) steht dem Trubel nun weniger skeptisch gegenüber, er darf bei seiner Familie bleiben und für sie sorgen.

Lloyd Riggins ist „der Mann“, der vom Beobachter zum Fluchthelfer von Jesu Eltern wird, er hat auch in den vielen stillen Partien der Rolle eine starke Präsenz und glänzt, als er endlich in den tänzerischen Jubel einstimmen darf. Silvia Azzoni und Alexandr Trusch tanzen ein überirdisches Engelspaar, das immer wieder an den himmlischen Ursprung der Geschichte erinnert. Die drei Weisen aus dem Morgenland (Marc Jubete, Sasha Riva, Thomas Stuhrmann) indes sorgen für ein eher plakatives exotisches Flair.

Das Böse hält Einzug mit dem König. Dario Franconi gibt ihn grandios als narzisstischen Latino-Tänzer von traumtänzerischer Egomanie, der nonchalant mordet und schließlich erkennen muss, dass seine Krone, für deren ängstlichen Erhalt er Bethlehems Kinder umbringen lässt, die Pappe nicht wert ist, aus der sie besteht. Er nahm sie sich von ein paar Narren, die mit Luftschlangen, Alkohol und Gegröle die Handlung stören wollten. Das Ensemble schließlich tanzt neben den heimatlos Suchenden auch die unterschiedlichen Gefühle, die die Weihnachtsgeschichte auslöst: Freude, Furcht, Überwältigung, Zweifel – unmittelbar zugängliche, fesselnde großartige Bilder.

Das Bühnenbild von Ferdinand Wögerbaum setzt reduzierte, aber starke Akzente: das goldgleißende Quadrat zu „Brich an, du schönes Morgenlicht“, zwei gekreuzte Balken zu Beginn des vierten Teils, die auf die düsteren Aspekte des Erlösungsdramas verweisen, drei Planetariumsschaukästen, die jedem der drei Weisen eine ganz eigene Wahrheit über das Himmelsgeschehen zugestehen – bis der Komet sie zur wahren Krippe führt.

Und dann ist da noch Bachs Musik. Die musikalische Qualität der Ballett-Aufführung nimmt unter den Hamburger Weihnachtsoratorien seit 2007 unbestreitbar die Spitzenposition ein. Alessandro de Marchi leitet eine feine Auswahl aus Opernchor (einstudiert von Eberhard Friedrich) und Hamburger Philharmonikern, die seine vom Tanzgeschehen geforderten ekstatischen, teils rasanten Tempi mit bravouröser Präzision meisterten.

Evangelist Christoph Genz hatte nicht seinen besten Tag: Anfangs wackelte die Intonation, und unschöne Registerwechsel trübten seine Weihnachtserzählung. Doch das wurde durch ein Solistenquartett der Spitzenklasse (Mélissa Petits schlanker Sopran, Katja Piewecks großer, sinnlicher Alt, der traumhaft sichere Tenor von Manuel Günther und Wilhelm Schwinghammers weicher, warmer Bass) mehr als wettgemacht.

Als am Ende das Dacapo des „Jauchzet, frohlocket“ ertönt, steht fest: Neumeier hat etwas geschaffen, das in der Staatsoper alle Jahre wieder große Freude verkündigen wird.

„Weihnachtsoratorium I–VI“ weitere Aufführungen: 11./14./15./26.12. und 1.1., Staatsoper, Karten: T. 35 68 68