Krawatten werden seltener. Selbst beim noblen Anglo-German Club kann man heute ohne kommen. Dies ist ein gutes Zeichen hinsichtlich der wirtschaftlichen Lage.

Es geht uns gut. Deutschland geht es gut. Ein Blick auf die Kragen der Männer bringt den besten Beweis: Die Krawatte ist seltener geworden. Statt akkurat geschlungener Binder schmückt den männlichen Hals heute oft nur ein Sommerschal — oder nichts. Ein gutes Zeichen hinsichtlich der wirtschaftlichen Lage.

Denn geht es der Wirtschaft schlecht und sind die Zeiten angespannt, tendiert die Männermode zur Konvention Krawatte. Das Festhalten an Bewährtem soll Halt geben. Das sagt zumindest das Deutsche Mode-Institut, und das muss es wissen: Schließlich vergibt es die Auszeichnung „Krawattenmann des Jahres“. Derzeit trägt ein Hamburger den Titel: der Musiker Jan Delay. Gibt es also an der Elbe, der oftmals letzten Bastion in Sachen Etikette und Tradition, noch Hoffnung für die Krawatte?

Die Spurensuche beginnt in der Politik, genauer: auf den Wahl-Partys am vergangenen Wochenende. Johannes Kahrs von der SPD? Oben ohne. Manuel Sarrazin von den Grünen? Oben ohne. Jan van Aken von der Linken? Oben ohne. Jetzt aber: FDP und CDU. Aber selbst da gibt man sich schon leger. Kurt Duwe von der FDP und Rüdiger Kruse von der CDU etwa verzichteten ebenfalls auf das gewohnte Accessoire. Und je weiter es in den Reihen nach hinten und in der Hierarchie nach unten geht, desto weniger Männer tragen Krawatte, Binder, Strick oder wie immer man es auch nennen mag. Die Suche geht weiter in der Wirtschaft. Aber auch hier finden sich viele, die den ungebundenen Kragen bevorzugen.

Und Medien und Kultur? Ob Moderator Markus Lanz, Schauspieler Ulrich Tukur oder „Zeit“-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo — alle oben ohne. Damit ist die Suche auch schon in der Kreativbranche angekommen, der ohnehin seit einigen Jahren eine Krawatten-Allergie nachgesagt wird.

„Na, hast du ein Vorstellungsgespräch?“ Diesen flapsigen Spruch bekommt so mancher Werber zu hören, wenn er mit einem Schlips umherläuft. „Wir haben, was unsere Kleidung angeht, einen Freibrief“, sagt Tobias Grimm, 32, Geschäftsführer Kreation bei Jung von Matt und seit elf Jahren im Unternehmen. Mit „wir“ meint er die Kreativen, bei den Beratern sei das etwas anders. Es gibt drei Anlässe, zu denen Grimm verbindlich eine Krawatte trägt: die jährliche Weihnachtsfeier, das erste Treffen mit einem Neukunden — und bei Meetings mit einem Kunden südlich der Elbe. Jener Kunde wies einmal einen Werber, der krawattenlos zum Termin erschienen war, am Ende darauf hin, dass er sich beim nächsten Mal doch bitte eine umbinden solle: „Wenn Sie hier ohne erscheinen, nehmen Sie mich und das Projekt offenbar nicht richtig ernst“, meinte er. Seither liegt in der Agentur eine Notfallkrawatte für kurzfristige Termine mit besagtem Kunden bereit.

Das Klischee vom freikragigen Werber ist also wahr. „Warum geht man in die Werbung?“, fragt Grimm rhetorisch. „Weil man Individualist ist, sich kreativ ausleben und auch mal neue Wege gehen will. Eine Etikette engt ja auch ein.“ Das bedeute aber noch lange nicht, dass man unangemessen gekleidet sei. Gerade als Werber — und dann noch in einer bestimmten Position — weiß man schließlich ganz genau, was wie wirkt. Grimms Kleiderschrank ist ausreichend mit Anzügen und Krawatten ausgestattet. „Wenn es zum Kunden passt, kleide ich mich auch mal ganz klassisch.“

Auf der anderen Seite der Krawatten-Front steht die Finanzbranche. Hier gehört — zumindest dem Klischee nach — der Binder an den Hals. Es soll schon Wirtschaftsprüfer gegeben haben, die angesichts eines nicht perfekten Outfits spöttisch gefragt wurden, ob sie heute der Busfahrer seien. Auch die Kundenberater und Servicemitarbeiter der Haspa tragen in der Regel Schlips. „Dies wird auch heutzutage von der Mehrheit der Kunden gewünscht“, sagt Haspa-Sprecher André Grunert. „Es gibt aber auch Ausnahmen, ganz ohne Anzug und Krawatte.“ Zum Beispiel am Standort an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften: Dort passen sich die Berater ihrer jungen Klientel an und kleiden sich legerer. Selbst unter Bankern ist die Krawatte also keine Selbstverständlichkeit mehr. Es sieht schlecht aus für das traditionsreiche Accessoire. Manche sprechen von einer Krise, andere gleich vom Aussterben.

„Ich würde dennoch nicht von einer Krawatten-Krise sprechen“, sagt Sven Leya, 41, der bei Ladage&Oelke für den Einkauf Accessoires zuständig ist. Der Herrenausstatter am Neuen Wall gilt als feste Adresse in Sachen hanseatischer Herrenmode. Reeder kaufen hier ein, amtierende und ehemalige Spitzenpolitiker und Wirtschaftsgrößen. Das Geschäft verzeichnet bei Krawatten zwar tatsächlich zehn bis 15 Prozent Einbußen, dafür gingen die Verkaufszahlen bei Sommerschals und Schleifen nach oben: „Der Sommerschal ist die neue Krawatte“, sagt Leya. Zudem gebe es natürlich noch einige Männer, die ihren Hals ganz frei lassen. „Das ist eine Frage des Alters und der Berufssparte.“ Während Junge und Kreative oft auf Halsschmuck verzichten, gehöre der Schlips bei Bankern und Notaren noch zum guten Ton. „Eigentlich bei allen Berufen, in denen Seriosität besonders wichtig ist.“ Außerdem sei der Trend zum offenen Kragen ein nordeuropäisches Phänomen: „In Italien würde nie ein Geschäftsmann auf die Idee kommen, nur mit Hemd und Anzug zum Meeting zu erscheinen.“

Dabei sieht Leya, der sich seine erste Krawatte bereits mit sieben Jahren aus dem Schrank des Vaters stibitzte, diesen Trend gar nicht so negativ. „Jeder soll unterstreichen, wie er ist“, sagt er. „Und es gibt eben Männer, für die eine Krawatte eine Liebesheirat ist, und welche, für die sie eine lästige Pflicht ist.“ Ihm sei ein Mann mit Stil, aber ohne Krawatte lieber als einer, dem man ansieht, dass er sich mit Schlips unwohl fühlt. Es gibt viele Dinge, die Leya schlimmer findet als ein Hemd ohne Schlips: zu fest gezogene Knoten, Spaßmotive und Multifunktionsjacken über Maßanzügen. Ihm sei wichtig, dass es um Stil und Qualität und nicht um Mode und Marke geht, sagt er.

Guter Geschmack rennt der Mode nicht hinterher, geht aber ein Stück weit mit ihr. Ein gutes Beispiel dafür sind die sogenannten Clubkrawatten, deren Farbkombinationen heute auch schon mal etwas peppiger und kräftiger daherkommen. Der Klassiker ist dunkelblau-dunkelrot gestreift mit feinen goldgelben Streifen. Inzwischen kann schon mal ein leuchtendes Türkis oder Magenta dabei sein. Clubkrawatten heißen die Dinger, weil man sie besonders gern in Hamburgs exklusiven Clubs der Stadt trägt.

Im Übersee-Club zum Beispiel besteht immer noch Krawattenpflicht für alle Veranstaltungen. Für diejenigen, die keine dabei haben, gibt es in der Garderobe eine gut sortierte Notfallkiste mit Leihbindern. Auch beim Anglo-German Club gab es so eine Kiste — aber die braucht der Herrenclub nun nicht mehr, denn er hat den Krawattenzwang aufgehoben. „Wir wollten uns der modernen Entwicklung nicht entziehen und mit der Zeit gehen“, sagt Vorsitzender Claus-G. Budelmann. „Wir sind konservativ, aber nicht gestrig.“ Zum einen wollte man so der Generation 30 bis 50 entgegenkommen, die im Beruf immer häufiger ohne Binder unterwegs ist, und zum anderen Missverständnisse mit Gästen vermeiden, die zu einer Veranstaltung ohne Krawatte kommen. Denn nach dem Griff in die Notfallkiste war oft nicht nur der Hals, sondern auch die Stimmung etwas gedrückt. „Die Aufhebung wurde von unseren Mitgliedern völlig entspannt aufgenommen“, sagt Budelmann, der auch mal selbst auf den Schlips verzichtet. Nie habe er eine mündliche oder schriftliche Beschwerde erhalten. „Und auch ohne Pflicht tragen 95 Prozent der Männer noch immer eine Krawatte auf unseren Veranstaltungen.“ Als Clubmitglied weiß man schließlich von selbst, was angemessen ist und was nicht.

So halten es auch die Rotarier. „Es gab bei uns zwar mal eine unausgesprochene, aber gültige Krawattenpflicht“, sagt Diethart Goos, Beauftragter Öffentlichkeitsarbeit Norddeutscher Distrikt 1890. „Aber heute sehen wir das nicht mehr so streng.“ Bei normalen Clubtreffen seien Hemd und Sakko ausreichend. Durchschnittlich die Hälfte der Mitglieder kommt so. Nur bei besonderen Anlässen sollen alle in korrekter Montur erscheinen, aber das tun sie ohnehin von selbst. Dafür gibt es auch clubeigene Krawatten mit dem berühmten Design, einem Wagenrad, die dann besonders stolz getragen werden. Ebenso verhält es sich beim Lions Club.

Eine Chance für die Krawatte gibt es noch: die Spielbank. Aber Fehlanzeige: Vor etwa fünf Jahren wurde die Krawattenpflicht abgeschafft. Auch hier wollte man mit der Zeit gehen. Zunächst gab es darüber etwas Unmut in den Reihen der älteren Stammkunden. „Aber inzwischen ist es völlig akzeptiert“, sagt Thomas Prohl, 57, von der Spielbank. Viele jüngere Männer kämen ohne, die meisten älteren mit Krawatte. „Und trotzdem sehen alle sehr schick aus, so wie es zu unserem Haus und unserer Tradition passt.“

Oh Krawatte, deine Zeit scheint vorbei. Die Politik, die Wirtschaft, die Clubs — alle scheinen dich im Stich zu lassen. Oder? „Die Krawatte lebt“, widerspricht Gerd Müller-Thomkins, Geschäftsführer des Deutschen Mode-Instituts. „Und sie wird es auch weiter tun.“

Nur weil sie seltener zu sehen ist, heißt das nicht, dass sie weniger wertgeschätzt wird, sagt er. Früher hatte jeder zig Krawatten in zum Teil schlechter Qualität im Schrank und trug selbst beim Gassigehen mit dem Hund eine. „Heute tragen die Männer Krawatten selektiver und bewusster. Sie kaufen lieber weniger, aber dafür gute Qualität“, sagt Müller-Thomkins. Es geht um Nachhaltigkeit und Wertschätzung. Ein bisschen ist es wie mit Fleisch: Das ist bei vielen auch keine Alltagskost mehr.