Wer sich beim Reeperbahn Festival von Konzert zu Konzert treiben lässt, erlebt ein Wechselbad der Gefühle

Hamburg. Türen und Fenster geben den Blick frei auf wippende, wogende Menschen. Welches Körperteil zu wem gehört, ist kaum auszumachen. Dampf tritt aus. Ein hoch beschleunigtes „Umta Umta“ schallt über den Spielbudenplatz. Und ein Rastamann hängt sich nach draußen, um durchs Mikro zu rufen: „Kommt rein, kommt rein, wir haben Platz für alle!“

Das mit dem Platz ist sicherlich Ansichtssache. Denn wenn die niederländischen Ska-Rocker Bazzookas auf dem Reeperbahn Festival in ihren alten gelben Omnibus laden, dann verwischen die Grenzen zwischen Künstlern und Fans zu einer einzigen großen Party auf engstem Raum. Ein kollektives Erlebnis in Musik, das jeden Einzelnen ganz eigen berührt. Und genau das ist es, worum es bei der viertägigen Konzertsause auf dem Kiez geht. Wenn all die offiziellen Business-Treffen und Branchen-Diskussionen abgeschlossen sind. Und wenn mehr als 300 Bands in rund 70 Locations vom Stripschuppen bis zur Kirche aufspielen. Wer sich von Club zu Club treiben lässt, der erlebt eine Reise durch unterschiedlichste Gefühlswelten, die die Musiker mit ihren Performances auslösen. Der Pop zeigt in diesen Nächten auf St. Pauli in komprimierter, elektronisch verstärkter Form, was für eine große intensive Verwandlungsmaschine er ist.

Ein guter Ort, um diese Magie hautnah zu spüren, ist das Molotow. Kaum hat dieser Kellerladen seine Pforte geöffnet, füllt er sich minutenschnell bis zum baldigen Einlass-Stopp. Warm und rot leuchtet er wie ein Mutterbauch des Rock ’n’ Roll. Dicht an dicht drängen sich die Festivalgänger. Die Jacken verstaut, die Erwartungen gespannt. Dann betritt das junge Londoner Sextett Eliza And The Bear die flache Bühne und spielt einen ungestümen Indie-Rock, der sich direkt überträgt. Der Trommeltakt beschleunigt den Herzschlag. Die Trompetenstöße schubsen die Seele nach vorn. Ein schöner schmutziger Sound, der sich perfekt einfügt in die Patina, die sich der aktuell von der Kündigung bedrohte Club jahrelang Nacht für Nacht angeeignet hat. „I got friends/ I got family here“, schallt es in einem Song von der Bühne. Ein Slogan, der für viele die Atmosphäre des Festivals gut zusammenfasst. Denn die Stimmung beim Club-Hopping zwischen Mojo Club und Uebel & Gefährlich, zwischen Imperial Theater und Neidklub ist familiär. Allerorts treffen Menschen auf Freunde oder machen sich welche.

„Darf ich hier noch zwischen euch auf die Fensterbank“, fragt eine junge Frau in der Hasenschaukel und klettert flugs über Bank und Tisch. In der charmant versponnenen Bar möchte sie einen besseren Blick auf die britische Formation Magic Arm erhaschen. Auch draußen auf der Silbersackstraße schauen Neugierige durch die große Frontscheibe. Mit ihrer melancholischen und zugleich äußerst positiv aufgeladenen Musik lädt das Duo am Rande der Reeperbahn dazu ein, kurz zu sich zu kommen. Denn auch diese Momente existieren beim Festival. Die ruhigen, in denen Trotz des Trubels kurz ein wenig Einsamkeit durchscheint. Magic Arm liefert den Soundtrack zu diesem Augenblick. Der eine singt davon, allein durch die Straßen zu laufen und schickt mit seinen Effektgeräten einen feinen Nachhall in die Nacht. Der andere hat sich seine Drums an einen alten Koffer montiert. Als sei er stets auf dem Sprung. Ein hübsches Bild, das motiviert zum Weiterziehen.

Im Docks versetzt Kate Nash frisch eingetroffene Festivalgänger unmittelbar in bonbonbunte Krawall-Laune. Beim Rotzgörenrock der Britin und ihrer coolen Frauencombo darf alles raus, was sich im Gemüt angestaut hat. Die 26-Jährige wettert in ihren Songs zuckersüß und dunkel grollend gegen schlechte Freunde und ungesunde Liebesbeziehungen, die viel zu lange halten. Ihren Hit „Foundations“ singt eine Gruppe Engländer aufgekratzt hüpfend und sich gegenseitig filmend mit. Mit einem glitzernden Diadem auf der langen Mähne und in ihrem mit Herzen bestückten Catsuit samt Scherpe wirkt Nash, als hätten die Spice Girls und Courtney Love ein glückliches Ende in einer Person gefunden. Sie ist in dieser Nacht die unbestrittene Königin des Rock, die zum großen Finale eine Schar Frauen aus dem Publikum zum gemeinsamen Tanzen auf die Bühne holt.

Dass sich beim Reeperbahn Festival immer wieder Orte dem Pop anverwandeln, die sonst reichlich wenig mit Musik zu tun haben, gehört zum vielschichtigen Konzept. Und so kommt es, dass der junge Hip-Hopper Tom Thaler im Foyer der Haspa-Filiale muntere Anti-Bausparer-Zeilen rappt: „Jetzt vergess ich mal den Rest meines Lebens und bleib bei dir.“ Freestyle statt Finanzgeschäfte. Und die Jungangestellten der Bank bessern unterdessen mit Bier- und Brezelverkauf in einer Ecke ihre Kaffeekasse auf. Ein kleiner Baustein im energiegeladenen Kosmos Reeperbahn Festival, in dem auch renommierte Künstler merken, dass sie Teil eines Ganzen sind. Dass die Menschen nicht nur ihretwegen da sind.

Der smarte Singer-Songwriter James Blunt etwa, der im März in der O2 World auftreten wird, stellte sein neues Album „Moon Landing“ im gemütlichen Schmidts Tivoli vor. Rapper Casper wiederum lockte ins Gruenspan, um seine Platte „Hinterland“ zu promoten. Seine Fans konnten vorab im Internet unter dem Schlagwort „catchcasper“ nach und nach mehr über den Geheimgig des Hip-Hoppers erfahren.

Die sozialen Online-Netzwerke sind längst zur zweiten Realität des Festivals geworden. Feiern und Fotos hochladen, prosten und posten laufen bei vielen Besuchern simultan. Emotionale Regungen, die das Live-Geschehen auslöst, erscheinen in Bild und Wort auf der digitalen Pinnwand, noch während die Akkorde durch den Körper fahren.

Dass er mit derlei neumodischen Dingen wenig zu tun habe, damit kokettierte Eric Pfeil bei seinem Auftritt in Angie’s Nightclub. „Als wir hier vor 40 Jahren das erste Mal gespielt haben, war der Kiez noch Brachland“, flunkert er fröhlich vor sich hin. Pfeil, spät zum Musiker berufener Popkritiker, gibt mit seiner Band Der Süden sein Live-Debüt. Nicht jedoch, ohne dies selbstironisch zu kommentieren: „Jetzt, auf unserer Reunion-Tour, wollen wir es noch mal wissen.“ Das Festival als durchaus unebenes Experimentierfeld für jene, die in einem anderen Genre fest im Sattel sitzen. Dieses Prinzip setzt sich in den Fliegenden Bauten fort.

Moderator Klaas Heufer-Umlauf gibt da mit Mark Tavassol von Wir sind Helden und der gemeinsam gegründeten Band Gloria seinen Einstand als Sänger. Und zeigt sich nervös, bescheiden, gar verletzlich. „Jetzt bin ich auf der Bühne angekommen. Vorher war alles Autopilot“, sagt der 30-Jährige nach dem zweiten Song. Es ist deutlich zu merken, dass der TV-Mann Respekt hat vor dem Eins-zu-eins-Austausch mit dem Publikum. Seine Songs intoniert er fast zu schön, zu sauber. Die Band jedoch steuert mit fein arrangiertem Rock gegen. Ein sympathisches Konzert. Denn die Zuschauer können mitverfolgen, wie sich da einer ausprobiert, wie etwas Neues entsteht, das erst noch wachsen muss. Die Verwandlungsmaschine Pop, sie ist stets auch ein Wagnis.