In einer Straße in Bonn, in der Beethoven zur Welt kam, wird die Orgel für Hamburgs kommenden Konzertsaal gebaut. Ein Werkstattbesuch.

Bonn. Wenn der Blitz in den Kölner Dom einschlägt und Teile der Elektrik grillt, muss der Dompropst bei einer Spezialfirma in Italien anrufen lassen, die das dann computerferngesteuert einrenkt? Gibt’s nicht? Gibt’s doch. Solche Dinge erfährt man, wenn der Bonner Orgelbauer Philipp Klais den Besuch aus Hamburg auf die Orgelempore mitnimmt. Es ist Orgelfeierstunde, der erste von zwölf Sommerterminen. Tausende von Besuchern hören andächtig zu, während Domorganist Winfried Bönig Bach und Messiaen spielt. Klais’ Firma hat die Schwalbennestorgel für den Dom geliefert, die in 20 Meter Höhe frei hängend ihren Gottes-Dienst versieht. Sie hat die Marcussen-Orgel im Hamburger Michel restauriert. Eines der nächsten Klais-Einzelstücke geht wieder an die Elbe.

An diesem Sommertag des Werkstattbesuchs ist es so heiß in der Bonner Nordstadt, dass man das Zinn für die Orgelpfeifen fast unter freiem Himmel schmelzen könnte. Doch das passiert im Souterrain, wo es auch nicht viel kühler ist. Gut sechs Meter Blechlänge schafft man dort beim Gießen, wird der Firmenchef später erklären. Längere Pfeifen werden aus Einzelteilen fast so virtuos zusammengefügt wie geplatzte Adern vom Hirnchirurgen. Großhandelsware kommt Klais gar nicht in die Nähe seiner Windladen. Solches Blech von der Stange wird nur gepresst anstatt liebevoll ausgestrichen wie Nutella, woanders können sich die Metallbestandteile nicht so schön frei ausleben wie bei ihm, scherzt er und meint es natürlich auch ernst. Klang ist für Orgelbauer immer auch eine ordentliche Portion Glaubenssache. Was passen soll, wird passend gemacht. Instrumente für das 21. Jahrhundert und für Abnehmer in aller Welt werden in Handarbeit gebaut, als wäre die Zeit in dem Bonner Sträßchen, in unmittelbarer Nachbarschaft von Beethovens Geburtshaus, vor Jahrzehnten stehen geblieben.

Die Grenzen zwischen Handwerk und Kunst sind in diesem Metier fließend

An der Wand der Lkw-Durchfahrt zum Kopfsteinpflaster-Hof hängen wetterfest eingeschweißte Artikel aus aller Welt, die über das bislang Geleistete berichten. Vor dem Rundgang durch die Werkstatt hatte Klais, alle Register der Überzeugungskunst ziehend, auf die Frage „Ein Konzertsaal ohne Orgel ist …?“ ganz selbstverständlich geantwortet: „Wie ein Buch ohne Buchstaben.“ Selbstbewusst sein gehört zum Selbstverständnis. Firmengründung 1882, vierte Generation. 65 Mitarbeiter, der älteste Sohn des Mittvierzigers Philipp Caspar Andreas Klais, der seit 1995 Chef ist, könnte irgendwann Nummer fünf werden. Das Work-Life-Balance-Konzept der Klais-Dynastie ist hier sehr konkret und überschaubar. Ein Global Player der Musikwelt, mitten in der Provinz, wo noch die Straßenbahn vorbeirumpelt, ein echtes Familienunternehmen eben.

Klais’ Wohnung liegt in dem Backsteingebäude direkt neben der Werkstatt. Der Garten grenzt ans Holzlager. Dort ruht 200 Jahre altes Holz von rund 400 Stämmen, jahrelang, Vorrat genug für etwa zehn gute Orgelbau-Jahre. Das eine oder andere Stück, das irgendwo hier der Ewigkeit entgegentrocknet, dürfte schon für die Endstation Elbphilharmonie-Orgel vorgebucht sein. Geschlagen werden die Bäume, das ist eine der vielen Lieblings-Infos von Klais für seine Besucher, immer nur im Winter und immer nur bei abnehmendem Mond. Das klingt leicht esoterisch, ist aber sehr praktisch. Dann steigen keine Säfte hoch ins Holz, und Schädlinge finden später, in der fertigen Orgel, keine schmackhafte Nahrung.

Klais hat Kunstgeschichte studiert und wäre gern Journalist geworden. Er weiß um Geschichte und die Überzeugungskraft guter Geschichten. Orgelbau ist Kleinstarbeit, Detailliebe, und wohl auch eine Portion ungebremst ausgelebter Wahnsinn, das wird ziemlich schnell klar. Die Grenzen zwischen Kunst und Handwerk sind in diesem Metier ohnehin fließend. Und dass diese Manufaktur, bei der Mitarbeiterfotos stolz ein Werkstatt-Fenster zieren, etwas anders ist als andere, sieht man bereits, bevor man eintritt: 2007, zum 125. Geburtstag, verzierten zwei Sprayer aus Barcelona die Fassade mit einem bunten Orgel-Tasten-Grafitto. Hinter den Mauern findet sich eine bewundernswerte Mischung aus Perfektion und Hingabe. Barockmusik strömt leise ins Unterbewusstsein der Kunst-Handwerker. So ziemlich alles außer den Schrauben und dem Leim ist Marke Eigenbau. Hier werden Lederstreifen zugeschnitten, da werden Mechanik-Innereien angepasst, deren genauen Zweck nur Orgelbauer verstehen, dort stapeln sich Bauteile, die ruhen, bis endgültig klar ist, ob das Holz sich nicht doch noch verzogen hat. Aber außer einer kleinen, zufällig gefundenen Kiste mit der Aufschrift „Hamburg pneumatische Teile“ lassen sich jetzt, knapp vier Jahre vor der geplanten Eröffnung des Konzerthauses, noch keine handfesten Indizien für die nächste Hamburger Klais-Orgel entdecken.

Kommt alles noch, überhaupt kein Problem, erklärt Klais mit der Routine von mehreren Dutzend Instrumenten im Werkkatalog. Ist ja alles im Rechner. Wie hochkomplex der Bauplan ist, demonstriert ein Mitarbeiter mit einer Simulations-Software, mit der man alles drehen, wenden, abbauen oder hinzuzaubern kann. Auf dem Nebentisch stehen unter anderem auch Testversionen jener Deko-Pfeifen, die das Konzertpublikum in einem Balkon hinter dem Orchesterpodium daran erinnern werden, dass der Große Saal tatsächlich auch eine Orgel beinhaltet.

„Zurückhaltender, als sie hier daherkommt, sieht sie in keinem anderen Konzertsaal auf der Welt aus“, findet Klais. Auch hier steckt die Begeisterung für den Auftrag, oder besser: die Mission im Detail. Durch die Zwischenräume der Pfeifen auf dem Balkon kann man ins Innere des Instruments sehen, in den 16 Meter hohen Maschinenraum der Töne. Und als ganz besonderes Design-Element hat die Firma Klais einen Vorhang aus Orgelpfeifen entwickelt, der vor den Spieltisch geschoben werden kann. Die Pfeifen sind an dieser prominenten Stelle im Rang buchstäblich zum Greifen nah. „Die Idee der Architekten für das ganze Gebäude ist ja nicht der Ausschluss, sondern die Zugänglichkeit“, erklärt Klais die extrem ungewöhnliche Platzierung. Sie werden deswegen eine speziell versiegelte Oberfläche erhalten, immun gegen Fingerabdrücke und Zuhörerschweiß. „So etwas auf einer gehobelten Zinnoberfläche, das ist wie der Blutfleck im englischen Schloss – den können sie wegpolieren, aber er kommt trotzdem immer wieder raus.“ Orgelbauer, muss man wissen, hassen nichts mehr als Fingerabdrücke auf ihren Pfeifen und Staub auf frischen Orgeln. Das ist Sand in ihrem Präzisionsgetriebe. Jede fertige Pfeife wird deswegen bis zum Einbau an ihrem Bestimmungsort in Frischhaltefolie mumifiziert, um sie dort so makellos wie möglich zu stimmen und zu intonieren. „Bevor wir hier die erste niedliche kleine Pfeife für Hamburg einpacken, werden wir mit viel Banalerem anfangen“, erklärt Klais, „mit dem Stahlgerüst-Tragwerk im Inneren der Orgel. Damit werden wir uns im Herbst 2015 aufmachen. Erst wenn wir die Orgel technisch zusammengesetzt haben, kommen die Pfeifen dran.“

Mehr als vier, fünf neue Instrumente pro Jahr bewältigt der Betrieb nicht

Womit wir dann doch wieder bei den wunden Punkten des Projekts wären. Die unfassbaren Mehrkosten, der vergurkte Zeitplan. Das Gestümper vieler Planer aus der Politik. „In der Theorie hätten wir sicher vor einem Jahr loslegen können, wenn nicht früher“, sagt Klais. Die Zeit wurde aber genutzt, um an Kleinigkeiten zu feilen, Weiterentwicklung der Trakturführungen, der Bereich der öffentlichen Pfeifen. „Wir haben das mehr als Chance begriffen. Es haben sich Dinge verändert, aber nur unter der Haube.“

Gottfroh dürfte der Orgelbauer sein, dass sein Kostenposten außerhalb der Preisexplosionen so blieb, wie er von Anfang an berechnet war. Alleinfinanzier der Orgel ist der Hamburger Unternehmer Peter Möhrle, er gab zwei Millionen Euro, jenseits der bekannten Streitereien um Schuld und Mehrkosten. Die erste Klais-Orgel mit eingebauten Untersuchungsausschüssen als unerwünschter Spezialeffekt, das muss doch eine Premiere gewesen sein? „Das war nichts, was unser tägliches Arbeiten belastet hat, weil wir dort in keiner Weise vorkommen.“ Keine mitleidigen Blicke von Kunden oder Kollegen? „Gar nicht, ich glaube, das ist eine Hamburger Wahrnehmung. Das ist eines der begeisterndsten und attraktivsten Projekte in der Wahrnehmung der Welt. Die Kostenentwicklung ist ein Teil, und sicher nicht der rühmlichste, aber es gibt auch einen anderen – dass eine Stadt den Mut hat, ein Kulturbauwerk ins Zentrum der Stadt zu stellen. Die Faszination Elbphilharmonie bleibt.“

Teil der Handschrift Klais’ ist die Rücksichtnahme auf örtliche Besonderheiten, Vorlieben beim Klang und Traditionen. Keine einfache Aufgabe, wenn man an die lange Geschichte der Kirchenmusik und ihrer Orgeln in Hamburg denkt. „Der Hamburger hat eine sehr klare, direkte Aussprache. Mir geht es bei der Elbphilharmonie-Orgel darum, mehr Sprachnuancen einzubringen. Sie kann und soll niemals in Konkurrenz treten mit den faszinierenden Instrumenten der Hamburger Kirchen, sondern sich speziell auf die Konzert-Anforderungen ausrichten.“

So groß der globale Markt inzwischen auch ist (Klais ist etliche Monate im Jahr auf Dienstreisen rund um den Globus unterwegs), so unberechenbar ist er auch. Längst nicht jede Ausschreibung wird gewonnen. Mehr als vier oder fünf neue Instrumente jährlich bewältigt der Betrieb aber auch gar nicht. 2013 ist für Klais mit sakralen Bestellungen belegt: Kircheninstrumente für León in Spanien, Kristiansand in Norwegen und zwei in Deutschland. 2014 dagegen nur Konzertsaal-Instrumente: eine Orgel geht nach Israel, andere landen in China, Taiwan und Buenos Aires.

Unmögliches scheint es auf diesem Niveau kaum zu geben, ein Wunder oder auch nur leicht Wunderliches dauert höchstens etwas länger. So wie bei Andrew McIntyre, einem musikbegeisterten schottischen Wirtschaftsprüfer, der sich den Traum erfüllen ließ, auf seinem Landsitz in den Highlands ein Örgelchen in seiner Scheune griffbereit zu haben. Klais kam und plante und baute und lieferte, weil es anders nicht ging, die Einzelteile in 18 Transportkisten per Helikopter. Der Herr mag ihr Hirte sein. König ist der Kunde. Am nächsten Tag fängt Klais’ Arbeitstag unschön früh an. Um fünf Uhr morgens fährt er nach Luxemburg, um für einen Kundenbesuch in den Oman zu fliegen. Seine Orgel dort ist Teil eines multifunktionalen Hightech-Opernhauses in Maskat, bei dem man die 500-Tonnen-Struktur auf Eisenbahnschienen bewegen kann. Normal bauen andere.