Mehr Zeit bleibt nicht. Für die Recherche und für das Aufschreiben dieser Reportage. Unser Autor haute – während fast 75.000 Fans in Scheeßel rockten – seine Eindrücke in die Tasten seines Laptops.

Entschuldigung, gehörst Du zum Festival?“, fragt die leicht angebrütete Männergruppe in der Minute, als ich das Laptop aufklappe. Nein, ich gehöre nicht zum Veranstalterteam des Hurricane Festivals in Scheeßel. Aber dennoch kennen die fünf Jungs keine Ruhe: „Uns wurde versprochen, dass wir hier Wilson Gonzales und Jimi Blue Ochsenknecht treffen. Aber die sind hier nicht“, empören sie sich und streuen Konfetti über meinen Rechner. Herrlich ist das hier.

Ich stehe im dritten Stock eines riesigen Turmes mit Blick auf die Hauptbühne. Die Festival-Primetime beginnt kurz vor Sonnenuntergang. Endlose Karavanen von Rockfans ziehen von den Zeltplätzen auf den Eichenring. Ein Riesenrad dreht sich, Sponsoren haben Tribünen und Wagenburgen aufgebaut, vom Brausebrauer aus Österreich bis zum Textilmulti aus Schweden. Hier feiert ja die Zielgruppe. 75.000 Jungs und Mädchen, jung, modeaffin, pure Lebensfreude zelebrierend. Wer möchte da nicht teilhaben?

Natürlich ist das Einkaufen von hautengen Oberteilen und Shorts nicht das, wofür die meisten hier gekommen sind. Hier geht es um Musik, die über 90 Bands von vier Bühnen an drei Tagen auf das Geläuf pusten. Viele haben ihre Lieblingskünstler schon auf den Programmzetteln oder in der Festival-App markiert, so wie einer der Konfettistreuer: „Sach ma, weißt Du, ob morgen bei den Queens Of The Stone Age der Dave Grohl von den Foo Fighters am Schlagzeug sitzt?“ Man weiß es nicht. Gleich spielen erst mal Bloc Party aus London, auch ein internationaler Name von Rang, aber auf der zweiten großen Bühne ist es an Frittenbude aus München respektive Berlin, Emotionen und Untergrund mit wüstem Electro-Punk aufzuwühlen. Sie locken ihre Zuschauer gezielt aus einem wirren Menschenstrom in die ersten gedrängten Reihen. Aber auch hier oben auf dem Turm wird es voll, hübsche Mädchen rempeln sich, aufgekratzt „’tschuldigung“ rufend, vorbei.

Ah, diese Begeisterung. Beim ersten Hurricane-Besuch vor 13 Jahren ging es mir nicht anders. Einfach mal dem Alltag sagen, was er einen kann, Dosen mit Getränken oder Futter aufreißen, und Petrus einen guten Mann sein lassen. Ob es nun regnet oder die Sonne scheint. Jetzt werden gerade wieder die Schleusen geöffnet, der Regen prasselt im Takt der Roadies von Bloc Party, die im Schallkegel von Frittenbude das Schlagzeug einsteuern. „Dave Grohl ist der beste Musiker der Welt“, grölt der Platznachbar mit kippender Stimme in mein Ohr. Ich bin jetzt schon gespannt, was im Laufe des Abends mit ihm passiert. Denn wenn die letzte Band des Tages gespielt hat, geht so manche Festivität erst richtig los. Ich denke an die erste Nacht zurück. Es ist drei Uhr morgens, als es einer 70 Meter entfernten Gruppe gefällt, den Zeltplatz mit einem erlesenen Musikgeschmack zu begeistern. Earth, Wind & Fire, Bryan Adams und Bumsbudentechno knallen aus einer monströsen, generatorgespeisten Anlage, knapp 50 Leute tanzen unter Pavillons, vereinzelt stolpern Abgänger mit drückender Blase in die Dunkelheit. Und wissen nicht wohin. Nicht selten passiert es, dass man sein Zelt betritt und einen uneingeladenen Gast hochschreckt, der sich ängstlich und mit fluoreszierenden Augen im diffusen Lichtkegel der Taschenlampe zusammenkauert. Das kann ja mal passieren in der Masse der silbernen Igluzelte. Man nimmt einfach ein Bier und lockt den Untermieter raus. Oder sucht sich selber eine neue Unterkunft.

Bloc Party entfesselt die ersten Beats. Ein Konfettifetzen verklemmt die „B“-Taste. Vor der Hauptbühne wabert ein Menschenmeer hin und her wie ein Weizenfeld. Es riecht nach Dünger. Kurzer Hinweis: Wenn Sie im Garten eine Biotonne haben, dann stellen sie diese zwei Stunden lang in die Sonne, gießen ein, zwei Kannen Bier hinein und schon sind Sie auch auf dem Hurricane Festival. Das riecht streng? Im Laufe von drei Tagen gewöhnt man sich daran. Genauso wie an die merkwürdigen Verkleidungen, mit denen sich einige Besucher von der Meute abheben. Hasen, Bären, Pandas und anderes Getier schwitzt in den seltenen Sonnenmomenten. Ich habe in den Jahren immer noch nicht ergründen können, was das soll. Auffallen um jeden Preis? Schnellere Wiederauffindbarkeit bei Kontaktverlust der Freunde? Man könnte mal fragen, während man morgens einem verzweifelten Morphsuit-Träger (Ganzkörperkostüme, die alles verdecken und doch nichts verhüllen) in der Dusche aus seinem Dress hilft. „Kannst Du mal den Reißverschluss hinten öffnen?“ Aber klar doch. Auch dem verirrten Nachtschwärmer wird ein Ausweg gewiesen. „Wo ist denn Wohnwagencamp Zwo?“, jammert er verzweifelt. „Bitte bringt mich da hin und lasst mich hier nicht zurück.“ Alte Festival-Regel: Man suche sich in so einer Situation die nächste Gruppe, frage nach einem Geländeplan und stehle sich in den Schatten. Das ist so ähnlich wie Fangen spielen. Du bist!

Und am Ende landen ja doch alle, sofern sie sich nicht den Knöchel bei Tänzeleien in schlammigen Treckerfurchen verstauchen, bei Bloc Party. Ganz vorne ist der Mob besonders wild am Toben. Die Ordner halten mit Wasserschläuchen in die erhitzen Leiber. Auch mein Kollege Alexander Josefowicz, der getreue Sancho Pansa, bringt kühles Nass in Getränkeform auf den Turm. Einer der Konfettistreuer, der sich mit „ich bin der Rudi aus Erkelenz“ vorstellt, reicht eine Kippe. Man passt auf sich auf hier. Wir stoßen an. Gitarrenriffs schneiden durch Schweiß- und Rauchwolken, es ist laut, es ist stürmisch. Es ist „Huuuricaaane“, wie Bloc-Party-Sänger Kele Okereke blökt. „Ihr habt ja durchaus Spaß hier“, merkt er an. Britisches Understatement. Ja, kann man so sagen.

Noch ein Blick vom Turm nach unten, während der Strohhalm im Becher über schmelzendes Eis kratzt. Oho, beim schwedischen Textilgiganten gibt es eine Fotoecke, in der sich ein sehenswerter Muskelbrocken bis auf Gummistiefel und Unterbüx entkleidet. Eine Blondine kreischt begeistert, die Männer stöhnen neidisch. Vielleicht merken sie in diesem Moment, dass sie doch so manchen Euro zu viel in Pommes und Bier, den beiden Hauptnahrungsmitteln hier, investiert haben. Dabei ist doch vorne vor Kele Okereke Leistungssport angesagt. Hüpfen, knuffen, mitsingen, die Nebenfrau oder den Nebenmann anlächeln. Wer weiß, welches Einzelzelt in der Nacht noch doppelt belegt wird. Oder dreifach, je nachdem, wen oder was man beim Aufziehen des Reißverschlusses noch aufstöbert.

„Yippie, Yippie, Yeah, Krawall und Remmidemmi“ wird an diesem Festivalsonnabend noch von Zehntausenden gesungen werden, sobald die Hamburger Truppe Deichkind den Abend abschließt. Es ist ein Mantra, eine Beschwörung der Abkehr von „24 Stunden, acht bis acht“, den Wochen nach und vor dem Hurricane, wenn es zurück geht in Schulen, Universitäten und Arbeitsstätten. Aber einer, und nicht nur der, arbeitet schon jetzt hier hoch über enthemmten Menschen. „Was machsu da eigentlich die ganze Zeit mit der Tipperei?“, fragt Rudi und steckt mir den Strohhalm seiner Energiebowle in den Mundwinkel. „Hmmpf“, antworte ich, bevor er den Strohhalm wieder herauszieht. Schon besser: „Ich schreibe hier meine Eindrücke vom Festival in Echtzeit auf. Ich habe 65 Minuten. Mehr nicht.“ „Ganz geil“, sagt Rudi. Ja, kann man so sagen.

Weitere Berichte vom Hurricane Festival auf www.abendblatt.de