Die multimediale „re-rite. Du bist das Orchester!“-Ausstellung zeigt im Elbphilharmonie-Kaispeicher ungewöhnliche Einblicke in „Le sacre du printemps“.

Hamburg. „Alles Menschliche ist an sich ein Provisorium“, mit diesem nett herausgesuchten Bismarck-Zitat hat Kultursenatorin Barbara Kisseler bei der von allerlei Sponsoren-Liebkosungen umrahmten Einweihungsfeier eine Menge auf den Punkt gebracht. Wenn es das Wörtchen „wenn“ nicht gäbe, wäre der Tournee-Auftritt der vor einigen Jahren in London konzipierten „re-rite“-Ausstellung im Mai 2013 ein Volltreffer im Hamburger Kultur-Kalender. Fast genau 100 Jahre nach dem legendären Skandal bei der Pariser Uraufführung von Strawinskys „Le Sacre du printemps“ hätte die Hightech-Schau in der längst vollendeten Elbphilharmonie anschaulich und hörbar gemacht, wie genial eine der bahnbrechendsten Partituren des frühen 20. Jahrhunderts gebaut ist, wie ein Orchester tickt, was mit Musikern passiert, wenn sie „Pause“ in ihren Noten stehen haben. Nichts Besonderes nämlich, weil sie warten. Man hätte sich fragen können, warum ausgerechnet auf diese Musik so wütend reagiert wurde, die seit Jahrzehnten zum geheiligten Repertoire-Kanon gehört. Während ihres Aufenthalts hätte Esa-Pekka Salonen, einer der temperamentvollsten Strawinsky-Interpreten und für clevere Didaktik immer zu haben, einige Etagen über der Kaispeicher-Austellungsfläche genau dieses Stück mit dem Philharmonia Orchestra aufgeführt.

Es hätte alles so schön sein können. Jetzt ist es bekanntermaßen fast so.

Auch deswegen bedankte sich Kisseler „ganz im Ernst“ beim nicht immer kooperationsübereifrigen Baukonzern Hochtief für die entspannte, wohl geradezu harmonische Zusammenarbeit. Salonen, der „Sacre“ und die Londoner kommen dennoch nach Hamburg, am 25. Mai, nur eben in die Laeiszhalle. Und nachdem „re-rite“ seit 2009 europaweit und darüber hinaus zum Publikumserfolg wurde und so gut wie abgespielt ist, dient es jetzt auch der Elbphilharmonie-Intendanz zur Spielplan-Politur, weil um das Event herum viele Sonder-Angebote beispielsweise für Schulklassen konzipiert wurden, obwohl dieses Konzept keine Altersgrenze nach oben hat.

Wer sich also bis Ende Mai (der Andrang dürfte schon angesichts der Besichtigungsneugier immens sein) ins Dreivierteldunkel eines Parkdeck-Rohlings des Konzertsaal-Fundaments begibt, wird immerhin so einiges lernen können über die Betriebsgeheimnisse eines Orchesters.

Während des Einstimmens – der Fagottist am Eingang der begehbaren Partitur zippelt sich da noch gemächlich in seine Startposition für das gefürchtete Auftakt-Solo – kann man sich eine Instrumentengruppe seiner Wahl suchen, um auf den ersten wuchtigen Tutti-Einsatz zu warten. Den Rhythmus, bei dem jeder mitmuss, und den Bernstein mit „It’s all about sex“ erläuterte. Knapp 30 Kameras haben Orchester und Dirigent und das Stück an sich in seine Einzelteile zerlegt und über die Grundfläche des Ausstellungsareals verteilt. Hier die Geigen, dort die Celli, eine große Leinwand weiter Holzbläser, Hörner oder Trompeten.

Das Stück nimmt seinen Lauf, der Besucher kann im Tempo seiner Wahl dem Fluss der Musik folgen oder auch nicht. Hier und da stehen Notenpulte mit den jeweiligen Stimmen. In der Abteilung mit den Percussionisten laden eine Pauke und ein Gong zum Zuschlagen ein, auf der Leinwand lächelt ein Profi geduldig, während der symbolische Countdown neben ihm zu sehen ist. Für ganz Mutige ist außerdem noch ein Kameraplatz neben dem virtuellen Salonen frei, um in dessen Schlagtechnik-Schatten genauso an Strawinskys Polyrhythmik zu scheitern, wie es viele Pult-Profis tun. Ein Monitor dient als Mischpult, um Klangfarben zu mischen, ein anderer bietet verschiedene Orchester-Perspektiven zur Auswahl an.

Krönender Abschluss ist die riesige Projektion von Dirigent und Orchester auf die Parkhausspindel. Vor allem hier sind die Übergänge zwischen Anschauungsunterricht ohne Noten und selbst berauschter Video-Installation sehr fließend. Der Elbphilharmonie-Baustelle an sich, der Unvollendeten an der Elbe, konnte zu diesem Zeitpunkt kaum etwas Besseres passieren als dieses Spektakel.

Als musikalische Weiterbildungsmaßnahme ist „re-rite“ der volle Erfolg sicher. Als kostenintensives Trostpflaster für die fundamentalen Hamburger Probleme rund um den Prestigebau und seine programmatische Gestaltung ist diese sehenswerte Ausstellung aber nur ein Etappensieg, der Marathon ist noch längst nicht vorbei.

„re-rite. Du bist das Orchester!“ 8.–29. Mai, So–Mi 10–18 Uhr, Do–Sa 10–21 Uhr. Karten (5/3 Euro) unter T. 35766666, tickets@elbphilharmonie.de, Informationen: www.elbphilharmonie.de/re-rite und www.philharmonia.co.uk/re-rite/