Zuletzt hörte man es wieder in der Staatsoper. Was aber bewegt einen Premierenbesucher zum Buh? Psychogramm eines Phänomens.

Hamburg. Wer hat es als Kind nicht am eigenen Leibe erlebt: Da hat man voll Schwung und Begeisterung etwas eingeübt oder gebastelt, führt es strahlend vor - und dann kommt die Lehrerin und tadelt das Ergebnis vor allen Mitschülern, oder der Rabauke aus der Nachbarklasse lacht sich kaputt. Und der junge Künstler steht da mit tiefroten Wangen und wünscht sich weit, weit weg zu sein.

Wer je für sein Kunstwerk lächerlich gemacht wurde, wird diese schmerzliche Erfahrung nicht vergessen. Und doch geht es nun einmal mit jedem Ausstellen von Kunst einher, dass sich ihr Schöpfer zu einem gewissen Grade entblößt. Kunst, darstellende zumal, braucht den Betrachter. Schauspieler, Sänger, Musiker sind auf die Beziehung zu ihren Zuschauern und Zuhörern angewiesen.

Das Publikum nimmt seine Rolle in diesem Spiel durchaus wahr, nicht immer zum Vergnügen der Künstler. Bei Opernpremieren lassen Leute im dunklen Abendanzug, die im Büroalltag womöglich niemals die Stimme erheben würden, sämtliche Regeln der Höflichkeit fallen. Bei der Premiere von Benjamin Brittens "Gloriana" in der Staatsoper Hamburg am vergangenen Sonntag rief jemand vom Rang herunter: "Was soll der Scheiß?"

Der Einwurf schaffte es bis ins überregionale Feuilleton.

Empörte Zwischenrufe und Pfiffe, Gelächter und Buhs gehören als Gegenstück zu Applaus und Bravorufen zum akzeptierten Vokabular des durch und durch bürgerlichen Rituals Opernbesuch. Sie sind der Shitstorm dieser leicht anachronistischen Welt.

Das Phänomen ist freilich ein paar Tausend Jahre älter als das Internet; schon die alten Römer sollen bei Gladiatorenkämpfen gebuht haben. Im Opernland Italien gehörte das Buhen im 19. Jahrhundert dazu. Die Uraufführungen von Bellinis "Norma" und Verdis "Traviata" erlebten vernichtende Publikumsreaktionen und gehören heute zu den beliebtesten und meistgespielten Opern überhaupt. Und als Wagner 1861 in Paris seinen "Tannhäuser" dirigierte, mähten seine Gegner jeden Applaus mit Trillerpfeifen nieder.

Vielfach buhen die Zuschauer im Schutze der Anonymität. Es ist vergleichsweise leicht: Dunkel ist es im Parkett ohnehin, und ein tiefes "Buh" brummt sich auch durch kaum geöffnete Lippen. Der ehemalige Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi dagegen hatte das Format, zu seiner Meinung zu stehen. Im Jahre 2000, Michael Thalheimer hatte Molnárs "Liliom" auf die Bühne des Thalia Theaters gebracht, verließ Dohnanyi die Premiere mitten im Stück mit dem Ausruf: "Das ist doch ein anständiges Stück, das muss man doch nicht so spielen!" Die Hansestadt war schockstarr, doch für das Theater wurde der Skandal zum Glücksfall: Die Inszenierung erlangte Kultstatus und blieb, ein im Theater höchst ungewöhnlicher Vorgang, neun Jahre lang im Spielplan. Sowohl für den Regisseur als auch für die Hauptdarstellerin Fritzi Haberlandt bedeutete dieser Umstand einen Karriereschub. "Das war ein kräftiger Eckstein für den Erfolg der Produktion", erinnert sich der damalige Intendant Ulrich Khuon, mittlerweile in gleicher Funktion am Deutschen Theater in Berlin. "Thalheimers Inszenierung war einfach eine starke Arbeit."

Buhs können sich gegen den Regisseur richten wie bei "Liliom" oder gegen den Komponisten wie bei Wagner. Häufig richten sie sich gegen einzelne Sänger, oft auch gegen alle oder sogar gegen jemanden, der gar nicht selbst auf der Bühne steht und für den die Sänger oder das Regieteam Blitzableiter spielen müssen, etwa gegen Kulturpolitiker oder Intendanten.

Aber wer ist er, dieser Buhrufer, und was bewegt ihn? Khuon zufolge reiben sich die Zuschauer oft an einer als Tabubruch empfundenen Inszenierung: "In unserer Gesellschaft kann man alles sagen und alles machen, aber eben nicht überall. Das ist eine Frage des Kontextes. An der Volksbühne in Berlin hätte sich kein Mensch über Thalheimers Inszenierung aufgeregt." Es kann das Publikum schon aufbringen, wenn auf der Bühne einmal eine Minute lang nichts geschieht. "Wenn ein Zuschauer dem Theater nicht traut, denkt er, ihm wird Zeit gestohlen. Er könnte doch die Pause auch auf sich wirken lassen. Aber die Menschen sind so getaktet, die wollen beschäftigt sein."

Dennoch wird im Theater weniger gebuht als in der Oper. In seiner Berliner Zeit könne er sich an keinen Publikumsskandal erinnern, sagt Khuon. "Meist sortiert sich ein Publikum im Lauf der Zeit danach, was es sehen will, und ob es sich auseinandersetzen will. Ich bekomme jetzt auch entrüstete Reaktionen, aber sie entladen sich nicht kollektiv."

In der Oper dagegen werden die Einfälle und Eigenwilligkeiten des Regietheaters auch heute noch misstrauisch beäugt. Die Spielpläne schöpfen mehr aus dem gängigen Repertoirekanon als im Theater, und die Zuschauer möchten oft einfach "ihr" Stück wiedererkennen. Deshalb braucht eine Inszenierung nicht einmal besonders radikal zu sein, um Buh-Stürme zu ernten, wie die Premiere von Johannes Eraths durchaus eingängiger "Traviata"-Lesart an der Staatsoper Hamburg vor einigen Wochen gezeigt hat. "Der Mensch neigt eben dazu, diejenige Inszenierung als die richtige anzusehen, die er zuerst gesehen hat", sagt der Hamburger Journalist und "Sängerpapst" Jürgen Kesting. "Aber ein Kunstwerk muss ja über die Jahrhunderte lebendig bleiben."

In klassischen Konzerten wird so gut wie nie gebuht. Um die Qualität einer instrumentalen Leistung zu beurteilen, braucht es geübtere Ohren - und die sitzen offenbar häufig an differenzierter wahrnehmenden Köpfen. Dass in der Oper die Stimmung besonders leicht hochkocht, liegt auch daran, dass die menschliche Stimme der Seele näher ist als jedes andere Musikinstrument. "Der Klang der Stimme löst einfach heftigere Gefühle aus", sagt Kesting. "Wenn jemand in Anna Netrebko verliebt ist, und dann singt sie schlecht, ist er persönlich enttäuscht." Diese Enttäuschung kann sich in eine regelrechte narzistische Kränkung auswachsen. Die gleicht der Fan aus, indem er sich seinerseits in Szene setzt.

"Ich finde Buhrufe extrem peinlich", sagt Kesting. "Die Leute machen sich nicht klar, unter welchen Belastungen die Sänger auf die Bühne gehen. Das grobe Verhalten soll man der Fankurve im Fußballstadion überlassen."

Klar ist aber auch: In der Fankurve ginge der einzelne Buhruf in der Masse der Gröhlenden unter. Missfallensäußerungen in der Oper oder am Theater sind zwar ebenfalls Teil der (unausgesprochenen) Verabredung zwischen Darstellern und Publikum. Und doch ist jedes Buh eine Grenzüberschreitung. Immer wieder. Darin liegt der Kitzel.