Erster Sonnenschein, Frühlingsgefühle, Empfindungsexplosionen und die Ästhetik des Kusses: Ein paar Gedanken über das Knutschen.

Hamburg. Mit der Sonne kommen die Knutscher, das muss die Natur einfach so eingerichtet haben. Der Volksmund nennt die hormonell gesteuerten Empfindungsexplosionen bekanntlich "Frühlingsgefühle", und die Liebesdetonationen sind nun auch in Hamburg zu spüren. Küsse unter blauem Himmel? Sind wie jedes Frühjahr, wenn es die mattgraue Suppe endlich hinwegspült, das brandheiße, neue Ding. Mindestens.

Oder sieht etwa irgendjemand dieser Tage nicht die verliebten Pärchen im Jenischpark oder am Jungfernstieg, in der Osterstraße oder in Planten un Blomen? Wenn die Sonne uns küsst, küssen wir zurück. Auf alle möglichen Arten: Zärtlich und en passant wie gesetzte Herrschaften, jugendlich und ungestüm wie Teenager. Dem Immunsystem soll die Zungen- und Gesichtsmuskelakrobatik sehr zuträglich sein. Der Organismus produziert mehr Hormone, haben Philematologen herausgefunden. Das sind Kusswissenschaftler, die gibt es tatsächlich - diese schöne zwischenmenschliche Praxis ist, scheint es, auch in der Theorie ziemlich anregend.

Wobei die naturwissenschaftliche Seite gänzlich uninteressant erscheint, wenn es um die gesellschaftliche Bedeutung des Kusses geht. Der ist ja ein anerkanntes Liebesritual, eine gemeinhin akzeptierte zärtliche Bekundung; sicherlich eine der populärsten und unbeschwertesten Praktiken überhaupt. Das küssende Pärchen agiert in derselben Liga wie das ausgelassen herumtollende Kind - wer sich darüber beschwert, kann kein guter Mensch sein.

Selten Einigkeit über kulturelle Bedeutung

Der Kuss ist ja nicht nur eine etablierte erotische Technik, sondern eine genuin abendländische Erfindung. Der Römer Catull war ein großer Liebeslyriker ("Und kein Neider ein böses Stück uns spiele/Wenn er weiß, wie der Küsse gar so viel sind"), und der Grieche Achilleus Tatios schrieb in seinem achtbändigen Liebesroman "Leukippe und Kleitophon" sentimental und hübsch: "Ich spüre den Kuss immer noch auf meinen Lippen, als wäre er ein körperlicher Gegenstand."

Der Kuss spielte zunächst auch in religiösen Zusammenhängen eine Rolle. "Grüßt alle Brüder mit dem heiligen Kuss", so steht es in den Thessalonicherbriefen. Aus Sicht der Kirchenoberen übertrieben es die Christen freilich mit der Küsserei, und so sah sich Papst Innozenz III. im 13. Jahrhundert gezwungen, den Kuss aus Kirchenkreisen zu bannen. Aus der religiösen Sphäre wanderte der Kuss, den Sigmund Freud wenig überraschend auf kindliche Befriedigungen in der oralen Phase zurückführt, dann konsequent in die allgemeinmenschliche. Es waren Dichter wie der Holländer Johannes Secundus ("Reiche die Lippen zum Kuss mir - so flehet' ich - reizendes Mädchen!"), die in der Renaissance das Hohelied des Kusses sangen. Einig waren sich die großen Geister aber nie, was den Kuss und seine kulturelle Bedeutung angeht. Der lüsterne Schriftsteller Marquis de Sade feierte ihn in allen Versionen, der prüde Aufklärer Voltaire assoziierte mit dem Kuss Verrat, Privileg und Theater. Verhindern konnte er die Erfolgsgeschichte des Kusses aber nicht, und es waren lange vor Hollywood die Dichter, die den Menschen Romantik und Liebe lehrten.

Sexueller Akt ein Punkt, Kuss ein Komma

Jeder erinnert sich an seinen ersten Kuss, diese klebrige Angelegenheit, die man mit 15 oder 16 auf irgendeiner Fete und nach irgendwelchen klebrig-alkoholischen Mutmachern hinter sich bringen musste. Wahrscheinlich küssen wir, während wir arbeiten, lernen, Kinder großziehen, uns um den Weltfrieden sorgen und manchmal auch noch Liebe machen (selbst dann!) viel zu selten. Es musste nun erst, natürlich, ein Franzose kommen, der nachhaltig daran erinnert, wie phänomenal Küsse doch sind.

Alexandre Lacroix, Jahrgang 1975, wohnhaft in Paris (mit Ehefrau und drei Kindern) schreibt in seinem kulturgeschichtlichen "Kleinen Versuch über das Küssen" (Matthes & Seitz Verlag) ganz zauberhafte Sätze wie den folgenden: "Wenn der sexuelle Akt ein Punkt ist, ist der Kuss ein Komma."

Dem beredten Kusstheoretiker fließt eine durchaus amüsante und bildstarke Kuss-Kategorisierung aus der Feder, wenn er etwa von den Kuss-Techniken ("Mischtrommel", "Pinsel", "Stab", "Endoskop") spricht und von seiner eigenen Kuss-Performance, er ist da sehr realistisch: "Ich bin kein Jazzer bei meinen Küssen, weder improvisiere ich sie, noch lasse ich ihnen freien Lauf. Ich begnüge mich damit, die Partitur, die man meinen Lippen vorgelegt hat, korrekt zu interpretieren."

Wie könnte einer, und ist er auch so literarisch und kulturgeschichtlich bewandert wie Lacroix, über das Küssen schreiben, ohne das eigene Erleben zu berücksichtigen? Und so finden sich in der Kuss-Theorie des Franzosen all die misslungenen, beiläufigen, folgenlosen, dramatischen, lustvollen und vergessenen Küsse, die einem als Mitteleuropäer ebenso unterlaufen.

Basinger: Rourke stank wie ein Aschenbecher

Die Unbedingtheit des Augenblicks, die Magie dieser emotionalen Ausdrucksform, wie sie heute außer bei der Premiere nur noch selten aufzufinden ist, war nie wieder so groß wie in den 30er- und 40er-Jahren. Die klassische Phase von Hollywood war auch die klassische Phase des Kusses. Die Gefühlsinnigkeit von Clark Gable und Vivien Leigh - er fordernd-männlich, sie sperrig-hingebungsvoll - in "Vom Winde verweht" wurde nachher nie wieder erreicht, und deshalb ist ihr dramatischer Kuss ein Mythos.

Er ging um die Welt und war im Hinblick auf die Ästhetik des Kusses um einiges wirkmächtiger als zum Beispiel Gustav Klimts Gemälde "Der Kuss". Es ist kein Kunststück, im Filmkuss von damals das größtmögliche Angebot für die Imaginationskraft zu sehen: Haben die sich jetzt echt geküsst?

Einige Jahrzehnte später lästerte Kim Basinger nach den Dreharbeiten von "Neuneinhalb Wochen", Mickey Rourke habe aus dem Mund wie ein Aschenbecher gestunken. So etwas nennt man Entzauberung. In unserem pornografischen Zeitalter halten wir es aber trotzdem mit Lacroix: "Nie hat sich der Kuss dem erotischen Flitterkram beigesellt, nie ist er zum Sammelsurium der ordinären Zärtlichkeiten abgeschoben worden."