David Wagner und Co.: Die Nominierungsliste des Preises der Leipziger Buchmesse überrascht mit jungen Kandidaten

Hamburg. Eine Jury, die über die Qualität von Form und Inhalt literarischer Werke entscheidet, geht dabei nicht mit Maßband zu Werke. Wo es um Geschmack geht, gibt es keine Exaktheit. Deswegen lässt sich so trefflich über die Nominierungslisten streiten. Irgendwas fehlt halt immer. Für den Preis der Leipziger Buchmesse, der am 14. März übergeben wird, sind im Bereich Belletristik fünf Autoren nominiert, unter ihnen einige Newcomer - was Scharfrichtern und Viellesern nicht gefiel. Immerhin soll die Leipziger Shortlist ein Hinweis auf die qualitativ besten Romane des Frühjahrs sein. Eine taugliche Lektüreempfehlung für den passionierten Leser; ist sie's denn?

Wer das überprüfen will, der sollte heute oder morgen den Weg ins Literaturhaus nicht scheuen, denn dort stellen sich die Finalisten des Leipziger Preises vor. Da wäre zum einen der Autor Ralph Dohrmann, dessen sprachlich ehrgeiziger, in Bremen spielender Roman "Kronhardt" eine schöne Herausforderung für anspruchsvolle Leser ist. Es geht um die Erlebnisse des Fabrikantensohns Willem, der so gut wie ein Lübecker Buddenbrook weiß, dass das Leben mehr für einen bereithält, wenn man die Erbfolge im elterlichen Unternehmen ablehnt und lieber den Bohemien und Schöngeist gibt. Der kommt erst in die Puschen, als er Hinweise auf den angeblich nicht ganz natürlichen Tod des Vaters erhält. Ab jetzt bekommt die Geschichte Drive - verhältnismäßig.

Ein würdiger Preisträger? Wohl eher ein Außenseiter; Dohrmanns mutiger 920-Seiten-Brocken erschien bereits im Herbst 2012, ging da aber leider etwas unter. In der gleichen Volumenliga wie "Kronhardt" spielt Birk Meinhardts DDR-Saga "Brüder und Schwestern", eine Art Gegenstück zu Uwe Tellkamps Großtat "Der Turm", der im bildungsbürgerlichen Milieu spielte. Die "Brüder und Schwestern" sind in diesem Falle nicht nur allgemein die Verwandten der BRD-Bewohner, die hinter der Mauer leben, sondern besonders die Werchows, die in der thüringischen Provinz eine Druckerei betreiben, die natürlich dem Volk gehört. Wer in der DDR lebt, der changiert in seinem Verhalten immer zwischen Anpassung und Auflehnung, der ist entweder Stasi-Informant oder Republikflüchtling oder irgendwas dazwischen - so steht es jedenfalls in den DDR-Romanen geschrieben, von denen es gefühlt jede Saison einen gibt.

Meinhardt situiert seine Familiengeschichte, die 1989 endet und in einem weiteren Band fortgeschrieben werden soll, in der Welt der kleinen Leute, der Flussschiffer, Zirkusmenschen, Fußballfans und Bahnschrankenwärter. Er hat ein pralles, unterhaltsames Buch geschrieben, ein altmodisches und unbefangenes; man hätte ihm mehr formale Courage gewünscht. Und manchmal ist "Brüder und Schwestern" bei allem Humor auch zu romantisch.

Ein Verdacht, dem sich Anna Weidenholzers Roman "Der Winter tut den Fischen gut" nicht ausgesetzt sieht. Der Debütroman der 1984 in Linz geborenen Wienerin Anna Weidenholzer ist ein makelloser Text, dessen Protagonistin so ziemlich die unglamouröseste Frau ist, die man sich vorstellen kann: eine arbeitslose Textilfachverkäuferin. Maria wird gekündigt, als sie 47 Jahre alt ist, und vielleicht ist es auch der handwerkliche Kniff, ihre Geschichte um die Entlassung rückwärts zu erzählen, der einen als Leser in der Unentschiedenheit gefangen hält. Ist das hier jetzt todtraurig oder unendlich lustig?

Letztlich geht es in "Der Winter tut den Fischen gut" um das mühevolle Unterfangen weiterzumachen, wenn der Markt einen nicht mehr braucht; trotzdem haben wir es nicht mit einem moralisierenden Buch zu tun, sondern einem distanziert warmherzigen.

Lisa Kränzlers Zweitwerk "Nachhinein" ist dagegen ein drastisches Buch, das von der Freundschaft zweier Mädchen erzählt. Ihr Verschiedensein schildert die 1983 geborene Kränzler, die auch Malerin ist, auf fulminante Weise, indem sie von einer harten Setzung ausgeht: hier eine Akademikerfamilie mit Klavier und Spanienurlaub, antiautoritärer Erziehung und Urvertrauen, dort die Unterschichtencharakteristika Bildungsferne, Alkohol, Prügel und emotionales Unbehaustsein. Der Abschied von der Kindheit vollzieht sich bei beiden Mädchen auf je eigene Weise mit dem Entdecken der Sexualität. Die Ich-Erzählerin ist das privilegierte der beiden Mädchen, sie versagt, und das nicht nur, weil das Grauen, das ihrer Freundin zustößt, für eine Heranwachsende nicht begreifbar ist. Die Freundin wird vom Vater sexuell missbraucht, ihre Hölle verschließt sich der Erzählerin. Psychologisch und stilistisch meisterlich zerspaltet Kränzler den Schutzraum der Kindheit, ihr Blick ist unbarmherzig und bitter.

Als Favorit für den Preis gilt zu Recht David Wagner. Er ist der einzige unter den Nominierten, der als Autor bereits etabliert ist. Wagner, Jahrgang 1971, legt dieser Tage mit "Leben" ein ganz und gar außergewöhnliches Werk vor, das, literarisch bearbeitet, Zeugnis von der eigenen Autoimmunkrankheit und ihrer Behandlung ablegt. Wagner musste sich vor einigen Jahren einer Lebertransplantation unterziehen, andernfalls wäre er gestorben. Sein Buch heißt "Leben", aber es handelt viel vom Tod, von der Krankenstation im Krankenhaus, der Lebensmüdigkeit und der Überlebenseuphorie. "Leben" ist, so banal das klingt, ein Plädoyer für das Leben, in dem man jeden Tag schätzen sollte, als wäre er der viel zitierte letzte. Pathetisch in seinen Beschreibungen ist Wagner aber fast nie, sondern vor allem präzise und melancholisch.

Lesung mit Birk Meinhardt/Ralph Dohrmann, heute, 19.30 Uhr, Literaturhaus. Moderation: Volker Hage

Lesung mit allen fünf Finalisten, morgen, 19.30, Literaturhaus. Mod.: Stephan Lohr/Rainer Moritz