Jérôme Bel und Theater Hora zeigen die sehenswerte Produktion, die beweist, dass Normalität ein verdammt dehnbarer Begriff ist.

Wer Menschen auf eine Bühne stellt, die einer wie auch immer definierten Norm nicht entsprechen, setzt sich schnell dem Verdacht aus, sie für die Kunst zu missbrauchen. Das erging dem französischen Konzeptchoreografen Jérôme Bel nicht anders, als er sich für seine aktuelle Produktion "Disabled Theater" mit dem Züricher Theater Hora zusammentat. Seit 1989 eines der wenigen Theater, in denen Menschen mit geistiger Behinderung als professionelle Darsteller agieren.

Die Gemeinschaftsarbeit wurde im vergangenen Jahr auf mehreren Festivals von der Ruhrtriennale bis zum Festival d'Avignon gefeiert und soeben zu Recht zum diesjährigen Theatertreffen nach Berlin eingeladen. Vorher ist sie vom 14. bis 16. Februar auf Kampnagel zu Gast. Hier gelingt wirklich ein kleines Theaterwunder, fast ein Paradigmenwechsel. In Bels repräsentationsfernem Theater führen sich die elf Darsteller, die meist lernbehindert sind oder Trisomie 21 haben, selbst vor. Zunächst stehen sie je eine Minute schweigend vor dem Publikum. Wunderbar sanft anmoderiert von der Schweizer Tänzerin und Choreografin Simone Truong. Und natürlich hält das nicht unbedingt jeder durch. In einer weiteren Runde stellen sie sich vor, geben neben Namen, Alter und Beruf auch Auskunft über ihre Behinderung.

Da kommt es vor, dass eine junge Frau diese nicht genau benennen kann, sie weiß nur, dass sie ein Chromosom mehr hat als alle anderen. In dieser Unerschrockenheit geht es weiter, gipfelnd in einem eigenwilligen Casting. Jeder muss zu einer Musik seiner Wahl eine eigene Choreografie hinlegen. Und die fördert Erstaunliches zutage.

Von der eigenwilligen Sitzperformance zu Kirmesmusik bis zur ausgefeilt virtuosen Darbietung im Geiste von Michael Jacksons Moonwalk. "Disabled Theater" ist ein Abend, der wahrlich begeistert. Weil er klug montiert ist und zugleich verspielt und wunderbar leicht die schöne These von Joseph Beuys erneuert, dass jeder Mensch ein Künstler ist. Unverkrampft führt er vor Augen, dass "Normalität" ein verdammt dehnbarer Begriff ist. Bel gelingt es sogar, auch solche Momente mühelos zu integrieren, in denen die Darsteller darüber sprechen, wie ihre Geschwister geschockt behaupten, sie würden in einer "Freakshow" mitwirken.

Jérôme Bel erweist sich mit dieser viel und durchaus kontrovers diskutierten Produktion erneut als humorvollster unter den Konzeptchoreografen. Wo andere bei ihrem postdramatischen Tanz eher bei einer intellektualisierten Körperlosigkeit landen, macht Bel seine intensiven Vorüberlegungen sichtbar, vermittelt Einblicke hinter die Kulissen der Arbeit und definiert wie nebenbei den Begriff des Bewegungstheaters mit seiner Phänomenologie neu. Und all das zum Gewinn des Zuschauers.

Jérôme Bel/Theater Hora: "Disabled Theater" Do 14.2. bis Sa 16.2., jew. 20.00, Kampnagel, k2 (Bus 172/173), Jarrestraße 20-24, Karten zu 15,- bis 22,- unter T. 27 09 49 49; www.kampnagel.de

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