Von 1792 bis 1848 schrieb der Hamburger Ferdinand Beneke Tagebuch. Jetzt arbeiten Historiker die Notizen und Briefe des Advokaten auf.

Die Wiederauferstehung von Ferdinand Beneke - 1774 in Bremen geboren und 1848 in Hamburg gestorben - findet in einem Souterrain-Flur in Uni-Nähe statt. In den Regalen der Büros, in denen er Zeile für Zeile zum Leben erweckt wird, stapeln sich Unterlagen und Nachschlagewerke. Unspektakulär und wenig einladend ist dieses Ambiente. Wären da nicht die Kaffeebecher der Historiker, die hier arbeiten.

Sie verweisen als liebevolles Detail auf eine viel privatere Geschichte. Auf ihnen ist das Porträt eines selbstbewusst blickenden Mannes zu sehen. Aufgeklärtes Bürgertum. Ferdinand, um 1825 gezeichnet. Hier, zwischen Sekundärliteratur und Schreibtischen, ist man schnell per Du mit dem damals stadtbekannten Advokaten, dessen Hamburger Familie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ausstarb.

Ferdinand ist keine Jahrhundertgestalt, kein Säulenheiliger. Er ist nicht mehr und nicht weniger als einer von uns. "Er ist wie jemand, der zur Familie gehört. Man staunt, man ärgert sich hin und wieder. Aber er gehört auf jeden Fall mit dazu", sagt die Historikerin Ariane Smith, die diesen Ferdinand seit 2001 aus nächster Nähe kennenlernt.

Nach dem, was über ihn bekannt ist, muss Beneke ein interessanter Mensch gewesen sein, mit manchen Höhen und auch einigen Tiefen, fragend, suchend, zweifelnd, überdurchschnittlich sozial engagiert, bildungshungrig. Er war kein Jedermann, aber auch keine Persönlichkeit von Weltenverändererformat. Seinen Platz suchte er sich lieber in der zweiten Reihe von seinesgleichen. Einen "nützlichen Bürger unter Hamburgs freiem Volk", so nannte er sich.

Ein Leben wie so viele damals, unendlich viele Geschichten. Ein Bildungsroman, aber aus lauter Tatsachen. Was Ferdinand vom 16. Juni 1792 - er war gerade 18 Jahre jung - bis zum 28. Februar 1848 erlebte, dachte und fühlte, hat er zu Papier gebracht und in 26 großen Mappen gesammelt, die er 1805 auf Vorrat anfertigen ließ. Heute nennt man so etwas Nachhaltigkeit, damals war es Weitblick. Damals war es auch Usus, ausgewählte Texte aus seinen Journalen an Freunde zu verschicken, wie Ferdinand es tat, oder sie in geselliger Runde vorzulesen. Rund 5000 Seiten, eng und manchmal in Geheimschrift, hat Ferdinand hinterlassen, dazu etwa 7000 weitere Seiten. Briefe, Akten, Reiseberichte, Rechnungen, Zeichnungen. Die letzten Eintragungen verfasste der Sohn des Gichtgeplagten für den Vater, der am 1. März 1848 starb.

Die 56 Jahre Leben, die so gebündelt wurden, bevölkern Tausende Zeitgenossen. Er bezeichnet sich als "Krösus an Freunden", heutzutage wäre er als First-Class-Netzwerker weit vorn.

Seit Jahrzehnten liegt dieses Material vor allem im Hamburger Staatsarchiv, einiges wird auch im Museum für Hamburgische Geschichte aufbewahrt. Ferdinands Sohn Otto Adalbert war Senatssekretär und damit auch Stadtarchivar. Der "Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur" des Mäzens und Literaturwissenschaftlers Jan Philipp Reemtsma ist es zu verdanken, dass dieser Schatz Seite für Seite, Tag für Tag ans Licht einer größeren Öffentlichkeit gebracht wird. Ein Liebhaber-Projekt.

Seit 2001 arbeitet ein derzeit siebenköpfiges Historiker-Team an der Edition; Ende 2012 erschien, nach jahrelanger Entzifferung der Handschrift und Sichtung der Hintergründe, der erste Schuber, vier Bände und ein üppiger Einführungsband. Gegen diese Tagebücher wirkt Thomas Manns Epos über die Buddenbrooks wie ein klitzekleines Pixi-Buch und Prousts Lebenswerk über die "Suche nach der verlorenen Zeit" wie eine mittelgroße Kurzgeschichte. Schon in den ersten vier Beneke-Bänden begegnen dem Leser, auf zehn Jahre und 2800 Buchseiten verteilt, rund 5700 Personen. Das Ende dieses Lebenslaufs ist für 2018 geplant, geschätzt wird ein Umfang von 15.000 Seiten in 20 Bänden. Auch eine digitale Fassung soll es noch geben.

Der Schriftsteller Arno Schmidt, ein Hausgott Reemtsmas, hatte Beneke einmal erwähnt; Schmidt bezeichnete die Erinnerungen des "eigenartigen Manns" begeistert als "das unschätzbare Buch". In der "Zeit" wertete der Editions-Ermöglicher Reemtsma diese Lebensgeschichten als "ein einzigartiges Dokument auf der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert. Man kann es lesen wie einen Tatsachenroman, man kann in ihm blättern, der Historiker kann es für seine Zwecke benutzen. So oder so: langweilen wird man sich nicht."

Kaufmannssohn Ferdinand wurde in die Nachwehen der Französischen Revolution hineingeboren. Seine Aufzeichnungen begannen in dem Jahr, in dem die "Marseillaise" komponiert wurde. Er starb, als sich in Deutschland die Märzrevolution ankündigte. Ferdinand schwärmte zeitweilig von den neuen Gedanken, die von Frankreich aus durch Europa rasten, und setzte euphorisch einen Brief an die US-Politiker Washington und Jefferson auf, weil er mit dem Gedanken spielte, von der Alten in die Neue Welt umzusiedeln.

Ferdinand hatte in Halle und Göttingen Jura studiert und kam danach, angezogen von den Aufstiegsmöglichkeiten und dem gesellschaftlichen Klima der Hansestadt, aus dem kleingeistigeren Preußen nach Hamburg. "Freiheit! Freiheit und Bürgerthum!"

Für die Unterprivilegierten setzte sich Beneke ehrenamtlich als Armenpfleger ein. Er wurde Mitglied der Patriotischen Gesellschaft und übernahm etliche Ehrenämter. 1807 heiratete Ferdinand Caroline von Axen, Enkelin eines Senators und Tochter eines Oberalten, sie bekamen sechs Kinder, Emma und Minna, Otto Adalbert, Ida, Adolf und Alfred. 1816 wurde er Oberaltensekretär, ein nobles Amt für wohltätiges Wirken, zu dem damals aber auch die Geschäftsführung der Bürgerschaft gehörte. Wer in Ferdinands Leben liest, liest im Herzen seiner Zeit.

Dass der Hamburger Bürger Beneke in Bremen geboren wurde und nicht an der Elbe, ist für den Historiker und Mitherausgeber Frank Hatje überhaupt kein Drama. "Das ist einer der großen Pluspunkte dieser Tagebücher. Er ist nicht von Kind auf in diese Gesellschaft hineingewachsen, was ihn zu einem so guten Beobachter macht."

"Ferdinand ist weniger Patriarch und weniger rückständig, als wir vermuten würden", umschreibt ihn Smith. "Ich empfinde seine Zeit jetzt als sehr viel moderner, als ich es bislang getan habe." Mit dem Bild, das Ferdinand uns von seiner Welt und dem Umgang mit ihr zeichne, müssten wir von so manchem Abschied nehmen. "Ferdinand war ein ausgesprochen selbstkritischer Mensch", meint die Historikerin, "er ringt mit sich. Er will ein guter Mensch sein, ein nützlicher Mensch. Das ist kein Seelenmüll in diesen Tagebüchern. Er kübelt nicht über dem Leser aus, was der gar nicht wissen will", findet sie.

"Dieses unglaubliche Interesse an Menschen finde ich spannend", ergänzt Hatje über sein Forschungssubjekt, "das ist eine komplett andere Zugewandtheit, als wir sie jetzt über Facebook und Twitter erleben. Das sind reale Personen, die wirklich zusammenkommen und sich über Gegenstände der realen Welt austauschen, aber auch über Dinge der geistigen Welt."

Bei der Frage, ob Benekes Leben ein tatsächlich spannendes oder lediglich ein außergewöhnlich gut dokumentiertes Leben sei, wird Hatje energisch grundsätzlich: "Es ist eine unglaublich spannende Zeit gewesen - Europa wurde umstrukturiert, Gesellschaftsstrukturen änderten sich grundlegend. All das kommt hier vor, weil dieser Mensch es unglaublich gut beobachtet hat und auch noch schreiben konnte. Das hat auch noch literarische Qualität."

Man könnte nun fragen: schön und gut, aber wen soll das interessieren außer einigen Historikern und Literaturwissenschaftlern? Was sagt uns das Leben eines Mannes aus guter Familie, der starb, als Brahms 15 war und kurz vor seinem ersten Konzert und Bismarck in Preußen mit königstreuen Bauern gegen Aufständische marschieren wollte? "Diese Lektüre lehrt einen, sehr differenziert auf die eigene Gegenwart zu sehen", erklärt Hatje, sie zeige, dass wir, egal in welcher Epoche, immer im Wandel leben und uns mit ihm arrangieren müssten. "Was uns da entgegenkommt, ist ein echtes Leben, von einem gebildeten Menschen. Es ist farbiger als alles, was wir bisher hatten", betont Smith.

Das Interesse an Ferdinand geht wohl auch deswegen weit über das erwartbare akademische Maß hinaus. Die erste Staffel der Beneke-Edition verkauft sich so gut, dass wohl bald nachgedruckt wird. Es gebe bereits Leser, die ungeduldig nachfragten, wann es denn endlich weitergehe, erzählt Hatje. Und mittlerweile ist die erste Anfrage zum Thema Verfilmung eingegangen. "Das Ganze ist so lebendig, es zieht einen so sehr in die Zeit. Das hat durchaus Soap-Opera-Qualitäten", sagt Smith. "Ja, man will immer mehr wissen."

"Ferdinand Beneke: Die Tagebücher. Erste Abteilung, hg.v. Frank Hatje, Ariane Smith u. a. Wallstein, 5 Bde., 2802 S., 98 Euro. Am 30. Mai, 20 Uhr, lesen Frank Hatje und Jan-Philipp Reemtsma in Lüneburg im Heinrich-Heine-Haus, Am Ochsenmarkt 1, aus den Tagebüchern vor.

Weitere Informationen: www.ferdinand-beneke.de