Anneke Degen ist die einzige selbstständige Geigenbaumeisterin in Hamburg. In Ottensen hat sie sich einen Lebenstraum erfüllt.

Hamburg. Für einen Augenblick bleibt die Zeit stehen. Milchig schimmert die Novembersonne durch uralte Bleiglasfenster. Hinter dicken Steinmauern einer ehemaligen Papiertütenfabrik an der Donnerstraße in Ottensen werkeln schweigend zwei Frauen, vertieft in ihre Arbeit. Die eine hantiert mit kleinen Hobeln aus Messing, kaum größer als ein Fingernagel. Winzige Späne fliegen. Die andere mischt aus Dammar, Mastix und Farbpigmenten einen Lack. Daneben steht ein Gläschen mit Granulat aus getrockneten Hasenohren. Für einen ganz speziellen Leim.

"Eine gute Geige ist ein Unikat mit besonderem Charakter", sagt Anneke Degen in die Stille hinein. "Wir bauen für Jahrhunderte." Wichtig ist, dass die Wölbungen fließen. Gut und gern 250 Stunden Zeit, Kunstfertigkeit und Hingabe verlangt ein Streichinstrument - in der Regel über mehrere Monate verteilt. Wenn am Ende das kleine Wunder glückt, verschiedene Hölzer zum Leben zu erwecken und ihnen einmalige Töne zu entlocken, hat sich die Mühe gelohnt. Wahrlich nicht nur finanziell. Die emotionale Bindung zum eigenen Produkt zählt. Auch daran hat sich seit Jahrhunderten nichts geändert.

Dass Frau Degen von Sachverstand, Fingerspitzengefühl und Begabung gesegnet ist, hat sich herumgesprochen: Kürzlich ist die einzige selbstständige Geigenbaumeisterin Hamburgs für gut zwei Wochen nach Spanien aufgebrochen, um das renommierte Orchester Real Filharmonia de Galicia in Santiago de Compostela zu betreuen. Alle Jahre wieder ist es ihre Aufgabe, sich um drei Dutzend Musiker individuell zu kümmern und ihre Instrumente klanglich einzustellen: Geigen, Bratschen, Celli und Kontrabässe. An Bord sind acht Alukoffer mit Werkzeug und Lacken. Als Kontrast steht immer im Juli das internationale Kammermusikfestival in Kuhmo in Finnland auf dem Programm.

Eine gute Geige wiegt kaum mehr als 420 Gramm, manche von ihnen jedoch ist Millionen schwer. Doch um immense Werte neu herzustellen oder gekonnt zu restaurieren, muss Anneke Degen nicht in die Ferne schweifen. Wie der Besuch eines Italieners bei Frau Degen bewies, der seine Stradivari retuschieren und mit einem neuen Steg ausstatten ließ. Experten schätzen sein Instrument auf acht Millionen Euro, allerdings ist es für einen Liebhaber wie ihn unbezahlbar. Doch für Anneke Degen stehen andere Werte im Blickpunkt.

Ihr Atelier im Hinterhof wirkt wie eine Werkstatt aus vergangenen Tagen. Computer und andere Hightech haben hier nichts zu suchen. Dafür dominiert Holz: Parkettfußboden, Hobelbänke, Truhen und zig Ausziehfächer in Kommoden von Tischlerhand. An der Decke hängen 20 Geigen in unterschiedlichen Größen, ausgewählte Einzelstücke stehen hinter Glas in einer Vitrine. Auf dem Boden ruhen Celli und Kontrabässe, Geigenkästen von winzig bis groß, Holzbretter und Leisten. An den Wänden hängen Bögen und Rosshaare von mongolischen Steppenpferden. Überall lagern Pinsel und Werkzeuge, insgesamt gewiss mehr als 500 Teile. Zum Beispiel acht verschiedene Minihobel, Bildhauer-Stecheisen, Feilen, Adergrabenschneider, Sägen oder Futterleistenschneider, aber auch Schablonen und Zirkel. Auf einem antiken Schrank befinden sich etwa 30 Gläser und Fläschchen. Dammar, ein Harz von malaiischen Laubbäumen, Mastix von Pistazienbäumen und der Balsam Kolophonium werden mit Ölen gekocht und zu Lack verarbeitet. Pigmente, Pflanzensubstanzen, Ahorn und Pottasche schaffen farbige Nuancen. Für den Leim zum Verarbeiten der verschiedenen Holzteile werden gleichfalls traditionell überlieferte Mixturen verwendet.

Mit dieser Kunstwerkstatt hat sich eine Frau ihren Lebenstraum erfüllt. Eben weil sie hartnäckig war und ihren ganz persönlichen Weg ging. Immer schon. "Anneke, spiel lieber Klavier", rieten die Eltern daheim in Wiesbaden, "das quietscht nicht so." Die Zwölfjährige indes wollte partout Geige spielen: "Ich habe dieses Instrument immer schon geliebt. Ich mag die Form und den Klang." Nach dem Abitur besuchte sie die anerkannte Geigenbauschule in Mittenwald in Oberbayern.

Aus der Gesellin mit Abschluss wurde später die heute 37 Jahre alte Meisterin. Im Deutschen Verband der Geigenbauer und Bogenmacher sind etwa 300 Mitglieder organisiert, davon gut ein Dutzend aus dem Großraum Hamburg. "Konkurrenz belebt das Geschäft", weiß Anneke Degen. Nicht nur professionelle Musiker nutzen ihren Service. Auch Amateurspieler mit hohen Ansprüchen wissen das Können der Fachfrau zu schätzen. Bei billigen Fabrikprodukten aus Fernost, quasi Geigen von der Stange, schmerzen ihr die Ohren. Zu ihren Diensten zählen neben dem Neubau Klangeinstellungen, Restauration und Verkauf alter Stücke, Beziehen von Bögen sowie der Instrumentenverleih an Kinder.

Im Moment jedoch hat sie alle Hände voll zu tun, aktuelle Aufträge zu erledigen. Das Geschäft läuft. Anneke Degen und ihre Gesellin Julia Jostes profitieren von ihrem hervorragenden Ruf und Mundpropaganda. Eine gute, von Meisterhand gefertigte Geige kostet zwischen 12 000 und 15 000 Euro, ein Cello gut 25 000 Euro.

Um dem vollkommenen Klang möglichst nahe zu kommen, muss alles stimmig sein. Über einem heißen Eisen biegt Frau Degen Zargen aus geflammtem Ahorn. Daran werden kleine Fichtenklötze geleimt. Sie verstärkt Futterleisten, fugt Decken und Boden, hobelt Wölbungen, schnitzt die "F-Löcher", befestigt den Bassbalken. Später werden Griffbrett und Schnecke geschnitzt. Letztlich nimmt sie die Lackierung in sechs Schichten vor. Und ganz zum Schluss wird ein Brandstempel platziert, um das gute Stück fälschungssicher und wiedererkennbar zu machen.

"Und wenn der Musiker meiner Geige die ersten wunderschönen Töne entlockt", sagt die Geigenbaumeisterin, "dann berührt es mein Herz."