Das Musical “Rocky“ ist Liebesgeschichte, Sozialdrama und Boxkampf in einem. Die gewagte Mischung im Operettenhaus überzeugt

Rocky", das ist ganz große Show. Hier auf der Bühne des Operettenhauses, wo am Wochenende die Weltpremiere des Musicals "Rocky - Fight from the Heart" nach dem Boxer-Film stattfand, werden Emotionen und Träume wahr. Denn Choreografen und Musiker, Sänger, Tänzer, Bühnenbildner, Techniker und Designer tun alles, um aus Sylvester Stallones Oscar-prämiertem Film ein wahres Feuerwerk an musikalischen, tänzerischen und optisch verblüffenden Nummern abzufeuern, die den Kämpfer mit Herz lebendig und zu jedermanns Liebling werden lassen. Wenn die Liebesgeschichte, das Sozialdrama und der Kampf um den Sieg über all das Bittere im Leben erzählt sind, finden sich die Zuschauer in der ganz großen Las-Vegas-Show wieder, die schillernd bunt und hemmungslos mitreißend zu Begeisterungsstürmen hinreißt. Jedenfalls war's zur Medienpremiere am Sonnabend so.

It's showtime! Mit Glitzerkostümen und Nummerngirls, überlebensgroßen Fernsehbildern, zwei Kommentatoren, die über allem thronen und an Statler und Waldorf aus der Muppetshow erinnern, Leuchtreklame, dem Boxring mitten im Publikum und Schmackesmusik wurde der Zuschauerraum am Ende zur großen Bühne. Hier wurde nicht gekleckert, es wurde geklotzt. Gut so, denn entscheidend ist nicht, "was hinten rauskommt", wie Helmut Kohl einst sagte. Entscheidend ist, wie man nach so einem Abend nach Hause geht. In diesem Fall heißt das beschwingt, schließlich lassen große Unterhaltung, wunderbare Darsteller, beeindruckende Bilder, tolle Choreografien wenig Platz für schlechte Laune. Ein kleines Manko gibt es doch: Am wenigsten überzeugen die Lieder, Balladen, modernen Walzer und Ensemblenummern, von denen keines wirklichen Ohrwurm-Charakter hat oder sich einschmeicheln konnte. Gelegentlich scheint die deutsche Sprache auch schwer im Mund zu liegen bei diesen Stücken von Stephen Flaherty, dem vielfach preisgekrönten Broadway-Komponisten. Rocky, der singt "ich versuch nur stand-zu-halten" klingt ein bisschen verhakt und gar nicht sexy. "I try to stand", wie im Original, wäre da wesentlich schöner. Ob's an den Songtexten von Lynn Ahrens lag oder an der deutschen Übersetzung von Wolfgang Adenberg lässt sich schwer sagen. An die Titelmelodie des "Rocky"-Films "Eye Of The Tiger" (in Englisch gesungen), bei der im Operettenhaus im zweiten Akt die Post abging, reichte kein Lied heran.

"Sie müssen mit einem Erdbeben beginnen und es langsam steigern", hat der Filmmogul Samuel Goldwyn einst einem Regisseur geraten. Hier ist es fast umgekehrt. Die Geschichte beginnt zwar mit spektakulären, schnellen Szenenwechseln, bei denen die Kulissen wie wild von rechts, links und oben hereinfahren, mal einen Umkleideraum mit knackigen Kerlen in knallengen Höschen zeigen und zack, sofort danach einen Keller. Doch dann lässt man sich Zeit beim Erzählen. Rocky singt in seiner ärmlichen Wohnung davon, dass der Rest seines Körpers aufs Abstellgleis müsse, "doch die Nase hält noch". Und schon geht's zur Tierhandlung, in der Adrians Chefin Gloria einen schmissigen Song singt. Alex Avenell macht das toll, doch vom Musikstück hätte man sich gewünscht, dass es mehr funkigen Phillysound rübergebracht hätte, ganz so, wie es 1976 klang.

Der Fokus des Abends liegt auf der Liebesgeschichte zwischen Rocky und Adrian. Beide sind Außenseiter, sie ein Mauerblümchen, er ein Loser. Sie finden nur langsam zueinander, geben sich dann aber gegenseitig Halt. Ja, wie ein Märchen klingt das, und es macht den großen Charme der "Rocky"-Story aus, dass man ebenso die Aschenputtel-Geschichte in ihr wiederfindet wie den biblischen Kampf David gegen Goliath oder die Idee vom amerikanischen Traum, dass jeder eine Chance im Leben bekommt und sie nutzen sollte.

Als der damals noch unbekannte Sylvester Stallone 1976 mit seinem "Rocky"-Film über den Underdog Rocky Balboa aus Philadelphia ein Millionenpublikum fand und mehrere Oscars abräumte, war seine eigene Geschichte fast ebenso rührend wie die seines Filmhelden. Stallone wurde mit der Story weltberühmt. Als sich vor sieben Jahren die Stage Entertainment an ihn wandte und ein Musical aus dem Stoff machen wollte, war Stallone sofort dabei. Heute präsentiert er das Musical ebenso wie die Klitschko-Brüder. Immer schon, sagt Stallone, habe er an Musik gedacht, wenn er die Szenen des Films vor sich sah. Thomas Meehan, der für die Musicals "Annie", "The Producers" und "Hairspray" drei Tony Awards (die Oscars der Musicals) erhielt und Dutzende andere Musicals und Drehbücher verfasste, wurde als Autor gewonnen (deutsche Übersetzung: Ruth Deny). Die Geschichte entwickelt sich sehr nahe an "Rocky". Erzählt wird, wie der Nobody, dem man selbst im Boxstall keinen eigenen Spind mehr gibt, zum Gegner des Boxweltmeisters wird. Parallel dazu läuft die zarte Liebesgeschichte mit der schüchternen Adrian, der Schwester seines Kumpels Paulie, ab.

Philadelphia, das war 1976 eine völlig heruntergekommene Stadt ohne Hoffnung für viele dort Lebende. Nicht viel anders geht es heute noch vielen Menschen. Als Hintergrund für ein Musical taugt dieses Setting ebenso wie die West Side Story. Keine schlechte Idee also, die sozialen Konflikte, die zunächst unerfüllte Liebe und den amerikanischen Traum vom möglichen Aufstieg als Musical aufzuführen.

Drew Sarich, ein Amerikaner mit viel Musical-Erfahrung aus Wien, spielt Rocky. Verblüffend ähnelt er dem jungen Stallone. Ebenso wie Wietske van Tongeren mit Schwarzhaarperücke und Brille wie eine Doppelgängerin von Talia Shire aus dem "Rocky"-Film aussieht. Doch anders als die Filmschauspieler können diese zwei wirklich singen. Den ersten Gänsehauteffekt der Aufführung erlebt man, wenn van Tongeren in der Zoohandlung, in der sie arbeitet, "Wenn es weiter regnet" mit ihrer wunderbar klaren Stimme singt. Man hat ja zuletzt sehr viele Schauspieler kennengelernt, die bei Liederabenden mit prächtigen Stimmen überzeugen konnten. Dass nun aber Musical-Darsteller, die ja zunächst tanzen und singen, nun auch noch tolle Schauspieler sein können, beweisen Sarich und van Tongeren.

Sarich ist der liebevolle, zarte Rocky, den Stallone im Film auch zeigen konnte. Es heißt, vor Probenbeginn sei Sarich noch ein wenig pummelig gewesen. Jetzt nicht mehr. Wenn er nun rennen, turnen, singen, tanzen, boxen muss, braucht er eine bombige Kondition. Zunächst einmal trinkt er vor seinem Training drei rohe Eier - was ihm Applaus einbringt. Und dann sieht man ihn im Trainingsanzug mit Kapuze durch die Stadt joggen. Papierdünne Stoffleinwände hängen dafür von der Decke. Auf sie werden Filme seiner laufenden Beine projiziert, während fünf, sieben, neun identisch aussehende Kapuzensportler auf der Bühne rennen.

Schöne Bilder wie diese hat der broadwayerfahrene junge Regisseur Alex Timbers gleich reihenweise gefunden. Der Besuch von Rocky und Adrian auf der Eisbahn beispielsweise zeigt die Schlittschuh laufende Geliebte vor einer Schneeflockenlandschaft und erleuchteten Bäumen "Du hast's im Kopf, ich hab's im Body, 'ne bessere Kombi gab's wohl noch nie", singen beide und Rocky kommentiert "echt mieser Reim". Eindrucksvoll, wie in Paulies Kühlhaus, in dem Rocky das Boxen übt, die Rinderhälften herabhängen. Oder wie Boxweltmeister Apollo Creed im lila-orange Ambiente von Büro und Outfit seine Leute um sich versammelt. Terence Archie, der Apollo spielt, verfügt übrigens nicht nur über gewaltige Muskelpakete, wie sie zu einem echten Profiboxer gehören, er hat auch eine tolle Stimme. Vor fünf Monaten konnte er noch kein Deutsch, heißt es. Er hat mächtig trainiert, wohl fast so viel wie seine Muskeln. Dass er am Ende, wenn er in den Zuschauerraum als Gegner von Rocky einläuft, ein kleines "Buh" erntet, ist ausschließlich seiner Rolle geschuldet. Denn im Kampf "Gut gegen Böse" muss er hier den Buhmann spielen, auch wenn Apollo alles andere als "böse" ist. Archie jedenfalls hat's drauf.

Knapp 150 Menschen haben an der "Rocky"-Produktion mitgearbeitet. Sie hat bereits so viel gekostet, dass das Stück nun 13 Monate lang vor ausverkauftem Haus spielen muss, um seine Kosten wieder einzuspielen. Für die Schauspieler in den tragenden Rollen, die unheimlich viel körperlichen Einsatz zeigen müssen, die singen, tanzen, spielen und vieles mehr an sieben Tagen in der Woche machen müssen, bedeutet das Schwerstarbeit. Ein Jahr lang sind sie zunächst verpflichtet. Kann man sich das vorstellen? Zwölf Monate auf der Bühne im Höchstmodus? Viel Glück ist da nötig. Aber das könnte klappen. Bei dieser Inszenierung, die so viel gute Laune macht.

Eine Frage bleibt: Wie viele rohe Eier wird Drew Sarich essen müssen? Und: Schafft er das?