Fliegengewicht “Ricky“ erobert im St.-Pauli-Theater die Herzen des Premierenpublikums. Ein schlagfertiger Liederabend für Musicalhasser.

Hamburg. Es geht wieder rund im Boxkeller der Kiezkneipe Die Ritze. Franz Wittenbrink hat seinen gleichnamigen Liederabend im St.-Pauli-Theater fortgeschrieben, ihm mit treffsicherer Regisseursrechter mehr Schwung und einen neuen Titel verpasst. "Ricky" und nicht "Rocky". Das Musical kommt erst noch. Aber die komische Parodie auf den Ringhelden hat in Gestalt Adam Nümms - stotternd, doch sexy, süß und total verschossen in seine Adrienne - schon mal die blutige Nase vorn. Das Publikum lachte viel, johlte und tobte am Schluss, als hätten die Klitschko-Brüder siegreich zugeschlagen.

"Noch immer hier", beklagt die halbseidene Tresenkraft Carmen (Susanne Jansen). Gurkenhobel-Vertreter Arthur Kowalczyk (Holger Dexne) hängt auch noch rum, hat trotz harten Trainings keine Muckis vorzuweisen, behauptet aber ungebrochen komisch und stramm "I Feel Good". Ex-Champion Jochen (Torsten Hammann) sinniert "lailailai" mit Paul Simons "The Boxer" über Glanz und Elend der Faustkämpfer und spielt sich als Schleifer der schlappen "Schwuchteln" auf. Seine nicht zitierfähigen Tiraden sind weder helle noch political correct. Auf dem Kiez geht's nun mal nicht besonders fein zu.

Nach wie vor philosophiert auch Paul Paulaner in seiner Denkecke unter der für Die Ritze typischen Treppe (Bühne: Raimund Bauer). George Meyer-Goll ähnelt wohl kaum zufällig dem Kabarettisten und "Kellerkind" Wolfgang Neuss und rezitiert im expressionistischen Stakkato seine Verzweiflungsverse: "Das Leben ist eine Haftanstalt: Eingang - Hofgang - Abgang." Kaum aufgetreten, macht Ricky, der neue in der Runde, mit seinem linkischen Versuch, Schutzgeld zu erpressen, wieder den Abflug. Doch der Junge kommt bald wieder, verknallt sich in die sittsame, streberhafte Tochter Carmens ("Was hab ich nur falsch gemacht?") und singt rührend mit Victoria Fleer das Duett von Bette Midler und Tom Waits: "I Never Talk To Strangers". Die Liebe beschert dem Leichtgewicht ungeahnte Kraft und der Revue einen furiosen Höhepunkt mit "Good Vibrations".

Neu im Ensemble und ebenfalls ein echter Zugewinn ist Rainer Piwek. Er übernimmt Peter Frankes Episodenrollen. Als üppige, rothaarige Nymphomanin Delilah girrt er - das Prachtweib versprüht aus allen Poren laszive Sinnlichkeit - in Rickys Ohr: "Geh schlafen, mein Junge", dass der Kleine beim "Wiegenlied" die Engel singen hört. Piewek kehrt dann als Frauenmörder wieder und schließlich als Kommissar mit einer starken Falco-Persiflage. Die dritte Neue ist Victoria Fleer. Bieder, bezopft, mit Schulheften in der Hand, erhält das Chemie-As ("The Elements") Szenenapplaus und erobert auch das Herz von Ricky. Denn Liebe funktioniert schließlich nach chemischen Gesetzen und Gegensätzen.

Nun ist "Ricky", mit "Lust" und "Nachttankstelle" der dritte Teil von Franz Wittenbrinks St.-Pauli-Trilogie, ein richtig und rundum gelungenes Vergnügen. Ein Stück vom Kiez, wie er leibt und lebt. Mal sehen, wie "Rocky" im Operettenhaus gegen den "Liederabend für Musicalhasser" (Intendant Thomas Collien) punkten kann.

"Ricky" bis 9.11., jeweils 20.00, So 19.00, Karten bei allen Hamburger Abendblatt-Ticketshops und unter der Hotline T. 040/30 30 98 98

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