Herbie Hancock, Manu Katché und noch viel mehr: Drei Tage Überjazz-Festival vom 26. bis zum 28. Oktober auf Kampnagel

Wie von Geisterhand geführt, taucht in der ansonsten ziemlich sternenarmen Jazz-Galaxie Hamburg neuerdings zweimal pro Jahr ein funkelndes Paralleluniversum der improvisierten Musik auf. Es wirft sein klingendes Licht an zwei Tagen im Hochfrühling und an drei Abenden im Herbst über die Stadt und verschwindet danach wieder so spurlos, wie es gekommen war. Elbjazz heißt das eine Phänomen, Überjazz das andere, auf Bühnen rund um den Hafen ist das eine zu bestaunen, unterm Dach von Kampnagel das herbstliche andere. Die Sterne, die dort leuchten, haben viele Farben, sie sind nicht besonders groß, und dass sie in einer lesbaren Konstellation aufträten, in der planerische Ordnung waltet, lässt sich nur bei einer Minderheit von ihnen behaupten. So gilt der erste Festival-Abend im kmh-Saal ausschließlich Künstlern des Hamburger Labels Pingipung, das trotz der grundsätzlich unangepassten Musik, die es veröffentlicht, seine ersten zehn Jahre quicklebendig überstanden hat. Zu den Mitfeiernden gehören der minimalistisch-subtile Percussionist Sven Kacirek und Andi Otto, der mit einem selbst entworfenen Instrument zwischen Cello und Elektronik auftritt.

Ansonsten wirbeln die kleinen und mittelgroßen Stars, ausgegossen von einem großzügigen Füllhorn, frei durcheinander, und bis auf den Sonntag, der allein dem einzigen wirklichen Weltstar des Festivals, Herbie Hancock, vorbehalten ist, gehen sie stets zu mehreren auf einmal nieder. Und das ist ganz in Ordnung so, denn Überjazz, dieses ziemlich tolle Kunstwort, erfasst ja vieles von dem, was den Jazz von heute in all seiner unscharf gewordenen Begrifflichkeit noch kennzeichnet - überfließen, über die Ufer treten, über den Kategorien stehen, mehr sein als anderes. Die Amerikaner, zumindest die coolen Socken unter ihnen, benutzen die aus dem Deutschen entliehene Präposition über als ihren maximalen Superlativ; nicht zuletzt John Scofields Album "Überjam" (2002) führte diesen Sachverhalt dem Rest der Welt vor Augen.

Zuspitzung und Entgrenzung machten von jeher den Reiz des Jazz aus. Aber bis in die 60er-Jahre klebte auf jedem Gütesiegel dieser Kunstform der Zusatz "Made in USA". Seit vor etwa 40 Jahren dort das Ende des Amerikazentrismus einsetzte, ist der Reichtum an Regionalsprachen des Jazz exponentiell gewachsen. Überjazz trägt dem durch sein spürbar europäisch geprägtes Programmangebot Rechnung, ohne deswegen die aufregenden jungen Exponenten des Mutterlands zu vernachlässigen.

Fernab von allem Swing-Dogmatismus bleibt die Improvisation der kleinste gemeinsame Nenner, der alle(s) miteinander verbindet - die Singer-Songwriterin Silje Neergard, die mit zwei Akustik-Gitarristen und einem Bassisten ihr sehr schönes, unkonventionelles neues Album "Unclouded" live präsentiert, den indisch-amerikanischen Saxofonisten Rudresh Mahanthappa, der sein neues Quartett Samdhi vorstellt, das Hypnotic Brass Ensemble aus Chicago, das aus acht blechblasenden Brüdern und einem familienfremden Schlagzeuger besteht.

Auch den französischen Schlagzeuger Manu Katché, der im Quartett mit den beiden Bläsern Nils Petter Molvær (Trompete) und Tore Brunborg (Saxofon) eine Musik voller magisch-melodischer Grooves fabriziert. Selbst die Underground-Pop-Exzentriker Little Annie und Baby Dee, die dann doch allein schon durch ihre beachtliche Entfernung zu allen herkömmlichen Jazz-Definitionen brillieren dürften.

Die Bereitschaft, das Ungeplante, aus dem Moment heraus Entstehende zum integralen Bestandteil von Musik zu machen, weist auch dem Publikum eine besondere Rolle zu. Oft setzt ja erst die Qualität des Zuhörens bei den Spielern kostbare Kräfte frei. Doch das braucht Zeit, und bei einem Festival wieÜberjazz, das stete Wanderbewegungen zwischen den nahe beieinanderliegenden Bühnen billigend in Kauf nimmt, stehen die Chancen für eine solche geheimnisvolle Einheit zwischen Publikum und Musikern nicht besonders gut. Wer sich mit den Füßen fröhlich durchs Überangebot des Festivals zappt, bekommt quantitativ viel Unterschiedliches mit, nährt indes auch das gefräßige Tier namens Erwachsenen-Aufmerksamkeitsdefizit, die Zivilisationskrankheit der Postmoderne. Kulturpessimisten könnten das Wort Überjazz auch in diesem Sinne deuten.

Überjazz Fr 26.10.-So 28.10., jew. 19.00, Kampnagel (Bus 172, 173) Jarrestraße 20, Tickets zu 38,75 (ein Tag), 64,15 (zwei Tage), 112,85 unter T. 413 22 60 und an der Abendkasse