Das Filmfest Hamburg, das am diesem Sonnabend endet, interessierte rund zehn Prozent mehr Zuschauer als im vergangenen Jahr.

Hamburg. Wer zu spät kommt, den bestraft zwar nicht das Leben, aber beim Filmfest sitzt er oft in der - ungeliebten - ersten Reihe. Muss den Kopf in Anbetracht der riesigen Leinwände von rechts nach links bewegen, um der Handlung zu folgen, auch eine gewisse Nackenstarre setzt ein, wenn das Leinwandspiel die 90 Minuten überschreitet. Frühes Erscheinen war in diesem Jahr für die meisten der Vorführungen in den sieben Festival-Kinos vonnöten, um das Programm genießen zu können: Das Zuschauerinteresse stieg noch einmal um weitere zehn Prozent, nachdem sich im Vorjahr bereits 40 000 Cineasten Tickets gekauft hatten. "Online gab's am Nachmittag noch eine Karte", sagt eine blonde Frau um die 40 zu ihrer Freundin. Mit einem zufriedenen Ausdruck sitzen sie im Passage, Reihe 8, Mitte, um die Premiere von Sarah Polleys "Take This Waltz" zu erleben, einem ruhigen Melodram mit der überragenden Michelle Williams in der Hauptrolle.

Polleys Beziehungsfilm wird später ins normale Kinoprogramm kommen, viele andere Arbeiten nicht. "Der schwierige Film braucht unsere Festivals. Nette Komödien müssen wir nicht zeigen", sagt Festivalchef Albert Wiederspiel. Schon mit der Wahl des Eröffnungsfilms "Valley Of Saints" hat er ein Zeichen gesetzt. Das zarte Umweltdrama aus Kaschmir gab zehn Tage lang die Richtung vor: Das Filmfest Hamburg setzte wieder auf ökologische und politische Themen. Die Zerstörung des Regenwaldes in Peru durch Ölmultis in "Law Of The Jungle", die Planierung einer einzigartigen Dünenlandschaft vor der schottischen Küste, um daraus einen Golfplatz für Millionäre zu machen in "You've Been Trumped" oder Fatih Akins Langzeit-Doku über eine verheerende Mülldeponie in einem Bergdorf im Nordosten der Türkei sind nur drei von vielen Beispielen, in denen mit Hilfe des Kinos Anklage erhoben wird und der Widerstand der Bewohner gegen diese Projekte gezeigt wird.

Die Hamburger zeigten sich begierig nach diesen Stoffen aus entlegenen Regionen und Konflikten, die weit entfernt von unserer Haustür stattfinden und uns dennoch etwas angehen. Die Kinosäle waren voll, viele Vorführungen ausverkauft und das bei von Mainstream und Popcorn-Kino weit entfernten Filmen. Sie brachten uns andere Kulturen nahe, wenn sie wie in "Wavumba" das harte Leben eines kenianischen Hai-Fischers erzählen; sie öffneten uns die Augen für den Riss, der durch die Gesellschaft Israels geht; sie berührten uns wie die Coming-Of-Age-Story des kanadischen Farmerssohn Simon in "Wetlands". Hamburg erwies sich gegenüber den internationalen Gästen als weltoffenes Publikum, das nach vielen Vorstellungen die Gelegenheit nutzte, Regisseuren, Schauspielern und Produzenten kluge Fragen zu ihrer Arbeit zu stellen. "Viele Diskussionen haben hinterher fast so lange gedauert wie der Film", sagt Wiederspiel. "In diesen Zeiten der Eventkultur will das Publikum mehr als eine normale Vorführung. Es will Diskussionen und Auseinandersetzungen. Wir bieten sozusagen ein Kinoerlebnis plus."

Natürlich war nicht jeder der 147 in diesem Jahr ausgewählten Filme ein Knüller. Auf die einschläfernde Miniatur "Mekong Hotel" hätte sicher mancher Zuschauer verzichtet, wenn er gewusst hätte, was ihn erwartet, auch andere Streifen hinterließen mehr Fragezeichen als Glücksmomente.

Doch selbst ein Festival wie die Berlinale mit seinem 20-Millionen-Etat (gegenüber 650 000 Euro in Hamburg) ist nicht gegen Flops gefeit. Beim Filmfest Hamburg funktionierte in diesem Jahr die Reihe mit oft rätselhaften Filmen aus der kanadischen Provinz Quebec nicht, und auch die Asien-Reihe bot viel Mittelmäßiges bis auf Kim Ki-duks überragendes Passionsspiel "Pietà". Für Wiederspiel war es - auch wenn rund drei Dutzend von etwa 1000 Zuschauern den Saal vorzeitig verließen - ein Glücksfall, dass er den Gewinnerfilm der Filmfestspiele in Venedig unmittelbar im Anschluss daran als Deutschland-Premiere zeigen konnte.

Internationale Stars blieben zwar dem roten Teppich fern - Ausnahme war Willem Dafoe, der jedoch nicht in offizieller Mission unterwegs war, sondern weil er gerade mit Philip Seymour Hoffman und Regisseur Anton Corbijn in Hamburg dreht. Doch einige waren immerhin auf der Leinwand zu sehen: neben Michelle Williams auch Yvan Attal in "38 Zeugen", einem Plädoyer für Zivilcourage, oder Gael Garcia Bernal in dem Polit-Drama "No". Sie waren die Sahnehäubchen auf einem engagierten und mutigen Programm, das dem Publikum einiges abverlangte, weil es ästhetisch mit den Sehweisen von Fernseh- und Kinounterhaltung brach. Wiederspiel darf seine Erfolgsgeschichte weiterschreiben: Der Vertrag des Festivaldirektors wurde gerade um fünf Jahre verlängert.