Das Theaterfestival startet auf Elbphilharmonie-Plaza mit Jochen Sandigs “human requiem“, einer Inszenierung nach Brahms.

Hamburg. "Klar sind Tränen geflossen bei den Proben. Das war nicht von mir beabsichtigt. Wenn's passiert, passiert's halt." Solche Ansagen, die sich auch sehr herzlos lesen ließen, würde man von Regie-Berserkern erwarten, von einem dieser Schauspieler- oder Sänger-Schinder, bei dem die Probebühne zur Inquisitions-Spielwiese wird. Jochen Sandig ist Welten von diesen Attitüden entfernt. Er ist freundlich, sehr freundlich; beim Reden und Erklären, was bei ihm fast deckungsgleich passiert, ist der Berliner Dramaturg kaum zu stoppen.

Es geht aber auch nicht um einen drohenden Regietheater-Exzess, frontale Nacktheit, blutüberströmte Tote, fröhlich sprudelnde Körperflüssigkeiten und so, es geht um eines der wirkungsstärksten Stücke, die Johannes Brahms hinterlassen hat. Sein "Deutsches Requiem", insbesondere in Hamburg - trotz seiner fast vollständigen Uraufführung 1868 in Bremen - eine Heiligkeit erster Klasse. Normalerweise wird das "Deutsche Requiem" konzertant gegeben, in Kirchen oder Konzertsälen. Sandig jedoch hat für eine Produktion des Berliner Radialsystems diese Totenklage zum "human requiem" globalisiert und "verräumlicht".

+++ Theaterfestival +++

+++ "Elbphilharmonie ging als Lachnummer um die Welt" +++

"Es ist schon eine Inszenierung, aber keine Choreografie", lautet der erste Erklärungsversuch Sandigs, der mit der Choreografin Sasha Waltz verheiratet ist und seit dessen Gründung 2006 einer der Chefs vom Radialsystem, einer sehr etablierten Off-Spielstätte für Musik und intellektuell Anregendes. "Eigentlich ist es ein dreidimensionales Konzert", lautet Sandigs zweiter Enträtselungs-Versuch. "Es ist eine Raumchoreografie", der dritte. "Es ist ein klassischer Theaterabend und gleichzeitig ein vollwertiges Konzert", der vierte. "Man ist die ganze Zeit zwischen Dur und Moll unterwegs, wie zwischen einer heißen und einer kalten Dusche", ein besonders anschaulicher.

Was Sandigs Version des Brahms-Requiems ist und was sie auslöst, werden einige Hundert Gäste Ende September bei der Eröffnung des Hamburger Theaterfestivals erleben, an einem Ort, der genauso spektakulär ist wie Sandigs Konzept. Nach der "Kaispeicher entern!"-Idee vom Ensemble Resonanz und der Grundsteinlegung 2007 mit Musikbegleitung wird es das erste öffentliche Konzert auf elbphilharmonischem Boden sein. Die Besucher werden auf der von (ohnehin kaum gebrauchtem) Baumaterial befreiten Plaza erleben, wie einige der Männer und Frauen, die neben ihnen stehen, plötzlich "Selig sind die, die da Leid tragen" zu singen beginnen; große Chorsätze folgen und komplexe Fugen, die über große Entfernungen lückenlos funktionieren müssen; begleitet von einem Klavier, das keinen festen Standort hat; all das geleitet von einem Dirigenten, der "wie ein Schiedsrichter" in Bewegung ist, und einem Ko-Dirigenten, der für weiteren Feinschliff der Details zu sorgen hat. Surround-Brahms, 37 Meter hoch über der Elbe, gesungen vom Berliner Rundfunkchor, der dank seines Leiters Simon Halsey zu den besten Ensembles seiner Art gehört.

Sie alle werden hautnah an der Entstehung dieser Trostspender dran sein. Sie werden Sänger so nah wie sonst nie sehen und hören und sie alle werden sich gegenseitig beobachten, während die Musik im Raum geschieht. "Brahms ging es wohl auch darum, sich selbst Trost zu spenden", sagt Sandig , "das ist die Kraft dieses Werks. Wir machen aber keine Schauspielerei. Die Idee war, dass die Sänger sie selbst sind." Manche, 37 Meter näher am Himmel als sonst, werden womöglich so gerührt sein, dass nicht alle Augen trocken bleiben. Beim Besichtigen und Sammeln seines Stücke-Sortiments für das Hamburger Theaterfestival war Intendant Nikolaus Besch auf Sandigs Regiedebüt gestoßen. Besch war sofort hin und weg, und da Elbphilharmonie-Intendant Christoph Lieben-Seutter einige Jahre von selbst gemachten Konzerten in der Elbphilharmonie entfernt ist, war auch hier die Freude über diese Einladung nach Hamburg groß, alle notwendigen Türen standen schnell offen.

Problemfrei zu organisieren ist das Ganze natürlich nicht: Die Grundfläche der Konzerthaus-Plaza ist etwas größer als die im Radialsystem. Doch dort hat es Mauern und eine Decke, dort steht der September-Wind nicht von zwei Seiten im Raum, dort benötigt man keine schwierig zu justierende, dezente Verstärkung durch Mikrofone und Lautsprecher. Im Radialsystem gibt es andererseits aber auch keine so beeindruckende Freitreppe wie die auf der Elbphilharmonie-Plaza, die Sandig in sein Konzept einbeziehen will. Bevor die Aufführung beginnt, werden Besucher genug Zeit bekommen, um sich am Ort sattzusehen, der bislang alles andere ist als öffentlich. Sandig ist schon jetzt begeistert von der Atmosphäre dieser Spielstätte, die ihn mal an eine Höhle erinnert, mal an eine Gebärmutter oder an das Innere eines Wals. Dramaturgen sind einfallsreiche Menschen. "Wir wollen den Baustellencharakter nicht wegretuschieren, sondern mit dem, was da ist, arbeiten. Das ist so ein Zwischenraum, man ist nicht ganz auf dem Boden und nicht ganz oben, da passt das Stück ganz gut hin. Auch die Elbphilharmonie ist ja noch nicht fertig. Dieses Unfertige passt unglaublich gut."

Dem Einwand, dass so viel Unmittelbarkeit vielleicht zu viel Nähe sein könnte, begegnet Sandig mit erwartungsfroh aufgeregter Gelassenheit, den kennt er. "Man muss nicht unbedingt alles sehen und erleben wollen. Darum geht's nicht. Wem das alles zu viel ist, der zieht sich zurück. Jeder kann sich eine Position suchen, auf der er sich wohlfühlt. Bei den Aufführungen entsteht eine Gemeinschaft. Man ist wie auf einer Wanderung."

Zur Arbeit mit dem leeren Raum hat Sandig der dafür berühmte Regie-Altmeister Peter Brook inspiriert, ein weiterer Ansatz war es, dem Stück "auch ein wenig von seinem ganz tiefen Ernst" zu nehmen, "für viele ist das wie Bachs Matthäuspassion, fast wie ein Religionsersatz, eine Ersatzdroge."

Jochen Sandig geht es ganz schlicht, ganz ergreifend darum, Brahms' Requiem "buchstäblich unter die Menschen zu bringen".