Nahost-Experte Christoph Reuter über die Brutalität des Bürgerkriegs in Syrien

Hamburg. Der erfahrene Reporter, Islam- und Nahost-Experte Christoph Reuter, 44, arbeitet seit Juni für das Hamburger Nachrichtenmagazin "Spiegel", davor war er neun Jahre lang beim "Stern" beschäftigt. Aktuell berichtet Reuter aus Beirut vom Bürgerkrieg in Syrien.

Hamburger Abendblatt:

Herr Reuter, wie drückt sich die Gewalt des Bürgerkriegs aus, die Sie in diesen Tagen erleben?

Christoph Reuter:

In Beirut erlebe ich keine Gewalt, aber in Syrien. Solche, wie ich sie in dieser Heftigkeit noch nie erlebt habe: Städte, Dörfer werden fortwährend von schwerer Artillerie, Panzern, von Hubschraubern und Kampfjets aus beschossen. Manche Ort wie Homs und Rastan werden seit Februar fast täglich auf solche Art angegriffen. Wer kann, der flieht, aber viele wissen nicht mehr, wohin sie sich in Sicherheit bringen können. Gerade Menschen aus den Orten Zentralsyriens trauen sich nicht, bis in die Türkei, nicht mal bis in den Libanon zu fliehen, und harren aus.

Welcher Art sind die Bilder, die Ihnen nicht mehr aus dem Kopf gehen?

Reuter:

Manche Toten, der kleine Junge, den ein daumennagelgroßes Schrapnell einer Granate von hinten ins Herz eingedrungen war und den Ärzte stundenlang vergeblich versuchten wiederzubeleben. Aber dann, kurioserweise, fast harmlose Bilder: Ein alter Mann hatte mitgeholfen, Teile eines Passanten aufzusammeln, der von einem "Schabih", einem der Milizionäre des Regimes, mit einer Handgranate umgebracht worden war, nur weil er versucht hatte, ihn davon abzuhalten, sie zu zünden. Der alte Mann hatte still ein paar kleine Teile aufgesammelt, als die anderen mit der Pappschachtel schon gegangen waren. Wir alle fuhren los, und er stand allein noch dort auf der Kreuzung, mit einem Stück Schädeldecke in der Hand, als ob er winkte. Es ist der leise Wahnsinn, der sich einem ins Gedächtnis brennt.

Wie gelingt es Ihnen, in die Normalität zurückzukehren?

Reuter:

Aufschreiben, reden, schlafen. Vor allem: aufschreiben.

Haben Sie schon mal richtig große Angst gehabt?

Reuter:

Angst hat verschiedene Formen. Wenn es um die Furcht geht, an einem Ort nicht weiterfahren, weitergehen zu wollen, ja, regelmäßig. Aber das ist eine sehr gesunde Form von Vorsicht. In gefährlichen Situationen werde ich eher sehr ruhig. Angst in Form einer unkontrollierbaren Panik: Das habe ich noch nicht erlebt. Würde ich sie erleben, wäre es vermutlich schwierig, weiterhin in solche Gegenden wie derzeit nach Syrien zu fahren.

Haben Sie schon mal daran gedacht, nach Hamburg zurückzukehren und sicher von Ihrem Büro aus zu arbeiten?

Reuter:

Mache ich sicher auch mal wieder. Aber solange ich über den Nahen Osten berichte, wäre es sinnvoller, auch hier zu sein. Es ist ja hier nicht überall unsicher.