Ein Rundgang mit Deichtorhallen-Chef Dirk Luckow über die Documenta 13. Am 16. September schließt die Weltkunstausstellung.

Kassel. Am Morgen ist die Schlange vor dem Eingang des Fridericianums noch recht lang, sie reicht bis weit auf den Friedrichsplatz und tangiert ein anarchisch-buntes Hüttendorf mit Parolen und Plakaten. „Kampieren hier etwa Künstler?“, fragt eine ältere Dame leicht pikiert. Ihr Mann weiß offenbar Bescheid: „Nee, das sind die Leute von Occupy, die gegen den Kapitalismus und die Macht der Banken kämpfen. Die gehören nicht zur Documenta.“ „Vielleicht ja doch“, sagt jemand in der Schlange halblaut, ohne dass ihm widersprochen wird.

Carolyn Christov-Bakargiev, die künstlerische Leiterin der 13. Ausgabe der Kasseler Weltkunstausstellung, hätte das wahrscheinlich gern gehört, denn vielleicht ist eines ihrer Schlüsselwörter. „Madame Maybe“, hat das Kunstmagazin „Art“ die amerikanisch-italienisch-bulgarisch-stämmige Ausstellungsmacherin genannt, die im Vorfeld der Documenta-Eröffnung mit Interview-Äußerungen über das Wahlrecht von Erdbeeren und den nur marginalen Unterschied zwischen Frau und Hund für Irritationen gesorgt hatte. Und auch dafür, dass sich bekennende Kunstbanausen in ihren Vorurteilen schenkelklopfend bestätigt fühlten.

Abgeschreckt hat Christov-Bakargievs zumindest gewöhnungsbedürftige Kuratorenrhetorik glücklicherweise niemanden, die Besucher stehen auch in brütender Sonne klaglos Schlange und damit ist es noch nicht einmal getan, denn auch in der Ausstellung muss man sich vor bestimmten Räumen immer wieder aufs Neue anstellen.

Das geht auch Dirk Luckow nicht anders, dem Intendanten der Hamburger Deichtorhallen. Wir treffen ihn in der Eingangshalle des Fridericianums, damit er uns einen Tag lang seine Sicht der Dinge erklären und seine Favoriten zeigen kann.

„Ich finde es sehr gut, dass wir hier nicht gleich in überfüllte Räume kommen“, sagt Luckow, was gnadenlos untertrieben ist, denn die Erdgeschossflügel beiderseits des Foyers gähnen vor Leere. Rechts finden sich drei Kleinplastiken des spanischen Bildhauers Julio González, die schon auf der Documenta II 1959 zu sehen waren – ein bewusster Bezug zur Geschichte der Ausstellung. Und links liegt in einer einsamen Vitrine der Brief, in dem der deutsche Künstler Kai Althoff der Documenta-Chefin erklärt, warum er auf eine Teilnahme lieber verzichtet.

Dass es hier kühl und zugig ist, liegt an der unsichtbaren Windmaschine des britischen Künstlers Ryan Gander. „Wir spüren Kunst, sind von ihr umgeben, aber wir sehen sie nicht.“, sagt Luckow, der Christov-Bakargievs Konzept eine ganze Menge abgewinnen kann: „Es geht ihr nicht nur um die Kunst an sich, sondern darum, die gesamten Verhältnisse in dieser Welt in ihrer elementaren Gesellschaftsbezogenheit zu erfassen. Nicht darum, unbedingt fertige Kunstwerke zu zeigen, sondern vielmehr die Haltung sichtbar zu machen, die zum Entstehen von Kunst führt“, sagt Luckow, tritt ans Fenster und zeigt auf jenen Eisenblock, der draußen auf dem Friedrichsplatz liegt. Er ist 3600 Kilogramm schwer und „vertritt“ hier einen zehnmal so schweren Meteoriten aus Argentinien, den das Künstler-Duo Guillermo Faivovich und Nicolas Goldberg mit künstlerischen Mitteln erforscht hatte. Nachdem die örtliche Bevölkerung gegen den Transport nach Kassel protestierte, verzichteten Faivovich und Goldberg jedoch auf die Präsentation zur Documenta und verständigten sich mit Christov-Bakargiev auf eben jene Lösung.

„Der Protest der argentinischen Anwohner ist in das Kunstwerk mit eingeflossen und hat eine Beziehung zwischen Orten hergestellt. Gerade der Transfer zwischen Orten und Räumen gehört zum Konzept dieser Documenta, die eben nicht nur in Kassel stattfindet, sondern vielfältige Beziehungen aufbaut, zum Beispiel nach Kairo, Alexandria und vor allem nach Kabul, wo die Weltkunstausstellung einen eigenen Schauplatz hat“, sagt Luckow und drängt sich auf der überfüllten Treppe hinauf in die Rotunde, um eines seiner Lieblingskunstwerke zu zeigen. Es ist der 17 Meter breite und fünf Meter hohe Wandteppich der in Warschau geborenen und heue in London lebenden Künstlerin Goshka Macuga, eine figurenreiche Komposition mit einer Kabuler Winterszene. Im Hintergrund dieser fotorealistischen Schwarzweiß-Komposition ist die trostlose Ruine des Darulaman-Palastes zu sehen, vor dem die Festgesellschaft steht, die sich 2011 in Kassel versammelt hatte, als Goshka Macuga hier den Arnold-Bode-Preis verliehen bekam. Das ungemein plastisch wirkende Bildwerk steckt voller Anspielungen und Assoziationen, man kann Personen erkennen, etwa Christov-Bakargiev, und stilistische Verweise, etwa auf Gerhard Richter. Das Pendant dieses Bildteppichs zeigt Kasseler Kulturmacher vor der Orangerie, es hängt in einem abgerundeten Raum im Kabuler Königinnen-Palast. „So entsteht eine Beziehung zwischen dem zerstörten Kabul und der Documenta-Stadt, die nach dem Zweiten Weltkrieg ebenfalls zerstört war“, sagt Luckow, der viele weitere Hinweise auf „Zerstörung und Wiederaufbau“, das Generalthema der diesjährigen Schau, findet.

Zum Beispiel in den Arbeiten des amerikanischen Bildhauers Michael Rakowitz, der sich von Büchern aus der Bibliothek des Fridericianums inspirieren ließ, die bei einem Bombenangriff auf Kassel 1941 verkohlt und beschädigt worden sind oder ganz verloren gingen.. Er ließ sie im afghanischen Bamyian aus jenem Stein rekonstruieren, aus dem die berühmten Buddhastatuen bestanden, die die Taliban im März 2001 zerstört hatten. „Es geht darum, dass man das Material der einen zerstörten Kultur nimmt, um eine andere zu heilen“, sagt der Künstler, der die Steinskulpturen in einer beeindruckenden Inszenierung im Fridericianum präsentiert.

Um Beziehungen ganz anderer Art geht es in einem Werk des Franzosen Kader Attia, der erst kürzlich in der „Wunder“-Ausstellung in den Deichtorhallen mit seiner Installation „Ghost“ vertreten war.

Diesmal konfrontiert er in einer beklemmenden „Kunst- und Wunderkammer“ Gebrauchsgegenstände und Holzplastiken aus Afrika mit Soldatengesichtern aus dem Ersten Weltkrieg, die durch grausame Verwundungen deformiert wurden „So wie die Kubisten sich an den Köpfen ‚primitiver Kulturen’ orientiert haben, wird uns das hier auf verstörende Weise quasi in umgekehrter Richtung vorgeführt“, meint Dirk Luckow. Mehr Zeit bliebt nicht fürs Fridericianum, obwohl es dort noch sehr viel mehr zu sehen gäbe.

Dafür begeben wir uns in schnellen Schritten in die Karlsaue. Ein flüchtiger Blick nur auf die Plastik „Idee di pietra” (Ansichten eines Steines) des italienischen Arte-Povera-Künstlers Giuseppe Penone, einer täuschend echt wirkenden, jedoch aus Bronze bestehenden Baumruine, in deren Krone ein gewaltiger Stein ruht – eines der populärsten Werke der diesjährigen Ausstellung. Dann vorbei an Anri Salas monumentaler, merkwürdig verzerrter Uhr, die auf ihrem eierförmigen Zifferblatt dennoch die richtige Zeit anzeigen soll – was diesmal nur annährend gelingt. Und schließlich im Schnelldurchgang durch das Hippiecamp des kanadische Künstlers Gareth Moore, in dem wir uns eigentlich gern niedergelassen hätten, weil es hier so viel Kurioses, Verblüffendes und Anrührendes aus Recyclingmaterial zu entdecken gibt. Doch dann hätten wir die spanische Windhündin Human verpasst, die wir in dem verwunschenen magischen und auch ein bisschen unheimlichen Garten des französischen Philosophen und Künstlers Pierre Huyghe treffen. Human ist nicht zu verfehlen, denn sie hat eine rosa Vorderpfote, ist zutraulich und bewegt sich frei auf dem Terrain, auf dem sich außerdem eine Frauenskulptur findet, auf deren Kopf Huyghe einen summenden und surrenden Bienenstock angesiedelt hat.

Der Hund mit der pinken Pfote hat es zu einiger Berühmtheit gebracht, steht er doch für Carolyn Christov-Bakargievs Vorliebe für Tiere im Allgemeinen und für solche mit vier Pfoten im Besonderen. Ihr ginge es um die De-Anthroplogisierung des Kunst, hatte sie verkündet, was Deichtorhallen-Chef sympathisch findet. Der Mensch müsse auch in der Kunst nicht das Maß aller Dinge sein, meint Luckow, der an diesem Tag eigentlich noch viel mehr Documenta-Kunst zeigen wollte: Das von Theaster Gates mit Versatzstücken von Abbruchgebäuden in Chicago ausgestattete Hugenottenhaus und Tino Sehgals faszinierende Dauerperformance „This Variation“ im dortigen Hintergebäude zum Beispiel. Oder die spektakuläre Videoinstallation des Südafrikaners William Kentridge.

Er hätte noch viel zu empfehlen und zu erklären, doch die Zeit läuft ab. Nicht nur an diesem sonnigen Spätsommertag, sondern auch für die Ausstellung insgesamt. Wer noch etwas davon sehen und erleben möchte, sollte sich beeilen, denn am 16. September ist Schluss. Dann werden die meisten Kunstwerke wieder abgebaut und auch Human, die berühmte Windhündin mit der pinken Vorderpfote, hat ihren Job dann erledigt und darf zurück ins Tierheim, falls Carolyn Christov-Bakargiev sie nicht adoptiert.

Bleiben wird nur das anarchisch-bunte Hüttendorf auf der Friedrichplatz, denn bis Mitte September dürfte der Kampf gegen den Kapitalismus und die Macht der Banken kaum beendet sein.

Documenta 13 noch bis 16.9.