Victoria Trauttmansdorff und Patrycia Ziolkowska spielen in Tschechows “Platonow“, Jan Bosses Eröffnungspremiere am Thalia-Theater.

Hamburg. "Platonow" gilt als einer der großen Zauderer, Weiberhelden - und Lichtgestalten der Theatergeschichte. Frauen umschwärmen ihn, wollen aus dem Stand ihr bisheriges Leben für ihn wegwerfen. Dabei ist er ein gescheiterter Idealist, der die Uni vor dem Abschluss verließ und nun in einer Durchschnittsexistenz als Dorflehrer gequält von Selbstekel dahinvegetiert.

Ein leeres Gefäß, in das sich herrlich romantische Gefühle, drängende Sehnsüchte von einem anderen, mutmaßlich besseren Leben hineinfüllen lassen. Unvergleichlich erzählt davon Anton Tschechow in "Platonow" - in einer typischen Szenerie aus Untergangsstimmung und Langeweile innerhalb einer Schar Stadtflüchtlinge in der russischen Provinz. Regisseur Jan Bosse eröffnet damit am 1. September die Spielzeit im Thalia-Theater.

Alle späteren Parameter von Tschechows großen Theaterwerken sind in diesem Frühwerk des 18 Jahre alten Gymnasiasten angelegt. Das überschuldete Gut, dem die Versteigerung droht. Eine Gesellschaft, in der jeder den Falschen liebt, die Unzufriedenheit im Alkohol ertränkt, weil man nicht glaubt, dass es noch mal besser wird. In der man von verbrauchten Hoffnungen lebt und - da man es nicht schafft, sich selbst zu erschießen - irgendwann einen anderen trifft. "Platonow" ist Psychogramm eines Größenwahnsinnigen und der Gesellschaft, in der er lebt. Tragisch, komisch und sentimental zugleich.

Vier Frauen sind es, für die der Hallodri und Betrüger Platonow zum unheilvollen Spiegel ihrer selbst wird. Neben seiner angetrauten Frau Alexandra Iwanowna Sascha, die junge Marja Jefimowna Grekowa, die auf dem Landgut der Gräfin Anna Petrowna auftaucht. Vor allem aber ist die viel zu früh verwitwete Anna Petrowna Wojnizewa höchst angetan von ihm. Wie auch auf schicksalhafte Weise seine alte Liebe aus Studienzeiten, Sofja Jegorowna. Beide Frauenfiguren werden von ausgewiesenen Protagonistinnen des Thalia-Ensembles verkörpert: Victoria Trauttmansdorff und Patrycia Ziolkowska.

An diesem Nachmittag sind sie nach der Probe schwer geschafft. "Ach, der vierte Akt ist ja so traurig", seufzt Trauttmansdorff. Ziolkowska raucht, trinkt Schorle. Trauttmansdorff braucht eine größere Stärkung und bestellt gleich Kaffee, Tee und Kuchen. "Sofja und er haben eine gemeinsame Vergangenheit. Sie treffen sich nach fünf Jahren wieder, wobei nicht erzählt, wird, was vorgefallen ist", erzählt Ziolkowska. "Es ist nicht geklärt und noch nicht vorbei. Sie hat sich für ein neues Leben und neue Begegnungen entschieden, ist die Ehe mit dem Generalssohn Wojnizew eingegangen. Aber nun flammt alles wieder hoch."

Auch die Witwe Anna Petrowna berührt Platonow im Innersten. "Sie hat ja gerade eine Art von Befreiung erlebt und ist eine Verdrängerin, die sich im Grunde nach Gefühl sehnt", erzählt Victoria Trauttmansdorff. "Der ist ja so authentisch. Da will sie mehr davon. Das ist wie ein Hunger in einer etwas künstlichen Welt der Konventionen, in der sie lebt." Trauttmansdorff beißt beherzt in ein Stück Pflaumenkuchen.

Auf dem Landgut der Petrowna sitzen sie und feiern eine Party am Abgrund, ein trunksüchtiger Oberst, ein Kaufmann, ein Pferdedieb. Plaudernd intellektualisieren sie sich in eine Stimmung hinein, als stünden sie vor großen Veränderungen. Das ist oft von köstlichem Wahnwitz, aber auch von knallharter Wahrheit. "Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass ich nie lache, wenn Sie Witze machen?", sagt Anna Petrowna zum Sohn Triletzkijs. "In unserer Zeit gab es Liebende und Hassende und demzufolge auch Menschen, die sich empören konnten, die verachten konnten [...] Gerade das Fehlen dieser Menschen ist die Krankheit unserer Zeit", sagt Gutsbesitzer Glagoljew.

"Alle Figuren sind so unglaublich schwach und doch so liebenswert", sagt Ziolkowska. "Jeder will von dem anderen etwas, es gibt eine große Melancholie und eine traurige Lebensfreude." Und Trauttmansdorff ergänzt: "Die Frauen, die Tschechow beschreibt, sind recht modern. Sie äußern ihre Bedürfnisse, sind lebendiger als die Männer, der Motor, diejenigen, die handeln. Teilweise haben sie auch studiert und wollen arbeiten." Die verhandelten Fragen richten sich an den Adressaten, aber auch an die Gesellschaft als Ganzes, in deren Zentrum hier ein Musterbeispiel an Orientierungslosigkeit steht. "Nur die Romane enden gut, in denen ich nicht vorkomme", sagt Platonow. Einsichtig ist er, immerhin.

Regisseur Jan Bosse, bekannt dafür, an großen Klassikern das Schwere - oft scheinbar leicht verpackt - freizulegen, ist es unbedingt ernst mit der von ihm und Dramaturgin Gabriella Bußacker erstellten Vorlage, die das voluminöse Stück zwar verschlankt, Nebenfiguren zusammenstreicht, aber der Erzählung doch ganz klar folgt. "Es geht weniger um eine Endzeitstimmung", sagt Victoria Trauttmansdorff. Das Spiel sei dekorativer als etwa Percevals "Kirschgarten", aber man käme ohne H&M-Modernkostüme und Video aus. "Die Inszenierung ist weniger formal, dadurch haben wir Schauspieler Raum zum Spielen", erzählt Trauttmansdorff. "Eine Frau schreiend an der Wand, ein Mann traurig über einer Wäscheleine, das ist nicht Bosses Ding."

Beide Frauen rühmen das exzellente Zusammenspiel aller Akteure. Trauttmansdorff, die dem Thalia-Ensemble bereits seit 1993 angehört, durchlebte die Intendanzen von Jürgen Flimm, Ulrich Khuon und nun Joachim Lux. Die langjährigen Ensemblemitglieder und die Neuzugänge hätten hier sofort zusammengefunden, sagt sie. Ziolkowska nickt. Platonow ist nicht der Einzige, dessen Welt zusammensteht, auch und gerade weil ihm wundervolle Frauen den Rücken stärken.

Platonow Premiere Sa 1.9., 19.00, Thalia-Theater (U/S Jungfernstieg), Alstertor, Karten zu 13,50 bis 66,- unter T. 32 81 44 44 oder unter www.thalia-theater.de