Das neue Werk des amerikanischen Meistererzählers Richard Ford, ist ein klassischer Entwicklungsroman. Wie verlustreich das Leben sein kann.

Der Horizont ist kaum zu sehen, das Land grenzenlos. Kanada, Prärie. Wolken ziehen unendlich langsam vorüber. Der Beat des amerikanischen Meistererzählers Richard Ford ist ebenso langsam, immer schon. In seiner der Figur Frank Bascombe gewidmeten Roman-Trilogie ("Der Sportreporter", "Unabhängigkeitstag", "Die Lage des Landes") schildert Ford jeweils nur wenige Tage im Leben des mittelalten Mannes, der nur ein kleines Rädchen im großen Getriebe der Welt, aber, wie wir alle, der Mittelpunkt des Universums ist mit seinen Gedanken, seiner Identitätssuche und Wirklichkeit. Fords Erzählstil ist darauf angelegt, die Augenblicke zu zerdehnen und die Empfindungen und Wahrnehmungen des Helden ausführlich vor dem Leser auszubreiten. Auch in seinem neuen Roman, der den einprägsamen Titel "Kanada" trägt und ein typischer Ford ist: Wo Erzähler wie Raymond Carver und John Cheever ihre Stoffe kunstvoll verknappen, geht der Pulitzer-Preis-Träger verschwenderisch mit Worten um: Als gelte es, kleinste Regungen zu erfassen. Im Falle von "Kanada" ist es der Teenager Dell Parsons, der im Zentrum des Geschehens steht. Er lebt mit seiner Familie in der nordamerikanischen Provinz: in Montana. Der Vater war Pilot im Zweiten Weltkrieg, die Mutter ist eine aus Europa stammende Jüdin. Die Kinder - Dell hat eine Zwillingsschwester - wachsen behütet auf. Die Handlung spielt im Jahr 1960, unmittelbar vor den gesellschaftlichen Umwälzungen in Amerika. Die aus europäischer Sicht ungebundenere Lebensplanung der Amerikaner ist schon damals offensichtlich, zumal hinsichtlich dieser Soldatenfamilie. Sie lebte in Texas, Mississippi und Kalifornien, ehe es sie in die Weiten des Nordens verschlug.

Die Weite des Landes hat ihre Entsprechung im Innenleben Dells: Der junge Mann saugt das Geschehen um ihn herum auf, auf dass aus ihm ein erwachsener Mensch werde. "Kanada" ist ein klassischer Entwicklungsroman, und er erzählt dabei aber die Geschichte eines Jungen, der gefährdet ist. Der Vater verstrickt sich nämlich in kriminelle Machenschaften; er liefert gestohlenes Rindfleisch an den Offiziersklub seines Stützpunkts. Bei einem Deal geht etwas schief, woraufhin der Mann von seinen Geschäftspartnern - Indianern - erpresst wird. Er tut etwas ganz und gar Unwahrscheinliches: Er überfällt, mit seiner Frau als Sidekick, eine Bank.

Und zwar auf so dilettantische Weise, dass die beiden Räuber leicht festgenommen werden. Selbst diesen Überfall beschreibt Ford ohne Spannungseffekte, als wäre der Betrachter der Szene mit einer Tablette ruhiggestellt. Dieser Betrachter ist im übrigen Dell selbst: als alter Mann und Lehrer in Kanada, der auf sein Leben zurückblickt. Das Leben ist in dem Moment, der die Eltern zu Delinquenten werden lässt, an einem Wendepunkt angekommen. Der altersweise Erzähler rekapituliert dies, und als Leser fragt man sich, ob es nicht ein nie überwundener Schock ist, der sich in den ruhigen und gemessenen Worten äußert. Andererseits ist die Sicht des alten auf das jüngere Ich von bestechender Klarheit, weil es das Gefühl von Verlorenheit nie vergaß: "Es bedeutet, man steht ganz allein und ausgesetzt in schier endloser Leere - und dann heißt es, Vorsicht walten zu lassen."

Schon kurz nach dem Überfall fängt der zweite Teil des Romans an. Er spielt jenseits der Grenze. Dorthin, in die kanadische Provinz Saskatchewan, wird Dell von einer Freundin der Mutter gebracht. Er soll nicht im Heim aufwachsen, und deswegen soll sich seiner Arthur Remlinger annehmen, ein Mann, der in den kanadischen Wäldern ein Jagdhotel betreibt. Dell kommt vom Regen in die Traufe. Wäre die Kindheit des tapferen Jungen, den man als Leser in sein Herz schließt (auch, weil er an Salingers Holden Caulfield erinnert), nicht schon mit dem Banküberfall zu Ende gegangen, sie wäre es spätestens jetzt: Remlingers Lebenslauf ist ebenso beschmutzt wie derjenige Dells.

Auch für den zunächst unnahbaren Mann ist Kanada, dieses nur unwesentliche verzerrte Spiegelbild der Vereinigten Staaten, Fluchtpunkt und Exil. Remlinger war in seinem früheren Leben ein politischer Heißsporn, der schuld ist am Tod eines Mannes. In Dell sieht er den jüngeren Bruder im Geiste: einen Flüchtling, der irgendwie damit zurechtkommen muss, was ihm zugestoßen ist. In "Kanada" geht es um den Kampf eines Jungen, in ein anständiges Leben zu finden. Will er, der unschuldig ist, sich von der Schuld der anderen anstecken lassen? Als Remlinger, um sein früheres Verbrechen zu vertuschen, erneut zur Waffe greift, spielt sich etwas ab, das für den Helden "immer als der außergewöhnlichste Tag meines Lebens in Erinnerung bleiben" wird.

Eine interessante Formulierung vor dem Hintergrund, dass er Zeuge eines Doppelmordes wird. So tritt neben die nachträgliche Verwunderung, unbeschädigt die Fährnisse seiner frühen Jahre umschifft zu haben, eine meditative Haltung. Eigentlich schichtet der Chronist Wort auf Wort, und doch ist er genau dabei ganz lakonisch. Am Ende lernt Dell auf dramatische Weise, wie verlustreich ein Leben sein kann. Und dass man sich selbst nicht entkommt.

Richard Ford liest am 9. Oktober im Magazin-Kino. Beginn 19.30 Uhr.

Richard Ford: "Kanada". Übers. v. Frank Heibert. 462 S., 24,90 €