Bestsellerautor Jussi Adler-Olsen schreibt im vierten Carl-Mørck-Thriller “Verachtung“ über ein brisantes Thema: Zwangssterilisation.

Hamburg. Die kleine dänische Insel Sprogø liegt zwischen Fünen und Seeland, sie hat einen idyllischen Leuchtturm und eine dunkle Vergangenheit. Auf Sprogø, das heutzutage unbewohnt ist und der Hängebrücke über den Großen Belt als eine Art Stützpunkt dient, gab es von 1923 bis 1961 die sogenannten Kellerschen Anstalten. In ihnen wurden Frauen gefangen gehalten. Frauen, die von offizieller Seite als gefährlich oder krank eingestuft wurden.

Oder, wie es der Psychiater Christian Keller, Leiter der nach ihm benannten Anstalt, damals formulierte: "Leicht debile Frauen, deren erotische Ausstrahlung eine wesentliche Gefahr für die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten" bedeutete. Lange Jahre blieben die Frauen auf Sprogø. Viele wurden zwangssterilisiert. Nur gutes Erbmaterial galt es zu erhalten.

Diese weitgehend unbekannte Geschichte einer weitgehend unbekannten Anstalt bildet die Folie, auf der der dänische Bestsellerautor Jussi Adler-Olsen seinen neuen Kriminalroman "Verachtung" aufbaut. Es sind genau genommen drei Geschichten, die Adler-Olsen in einer erzählt: die Geschichte einer Demütigung, die Geschichte einer Rache, die Geschichte einer Besessenheit. Sie spielen zu verschiedenen Zeiten, Jahrzehnte liegen zwischen ihnen, und doch gehören sie eng zusammen auf tragische Weise.

Der Champagner im Kelch prickelt verführerisch an diesem grauen Novembertag des Jahres 1985. Nete Rosen genießt diesen Moment mit jeder Faser ihres Körpers. Mit ihrem Mann ist sie zum Ehrendinner bei der Verleihung des Großen Nordischen Preises für Medizin geladen. Nur die feine Gesellschaft ist dort versammelt, Forscher, Wissenschaftler, Menschen, mit denen Nete nicht immer zu tun hatte in ihrem Leben. Sie stammt aus anderen Verhältnissen, aus einer Welt, in der Armut und Gewalt herrschten. Erst seit der Heirat und dem sozialen Aufstieg weiß sie, dass man das Leben genießen kann.

Doch etwas ist beunruhigend an diesem Abend. Nete spürt einen Blick auf sich ruhen, der sich einbrennt in ihre Haut und der den Champagner in ihrem Glas droht schal werden zu lassen. Als Nete den Mann, der sie von der anderen Seite des Festsaals beobachtet, erkennt, ist ihr schlagartig klar, dass die Vergangenheit sie eingeholt hat. Denn jener Mann weiß, dass sie auf Sprogø war, viele Jahre zuvor - und er lässt es alle anderen auch wissen auf dem Empfang dieser ehrenwerten Gesellschaft. Kurze Zeit darauf liegt Netes neues schönes Leben in Scherben.

Sprogø , das Jahr 1955. Das ist die zweite Zeitebene, auf der die Geschichte spielt. Leben und Überleben in der Anstalt. Hass und Intrigen regieren, menschliche Wärme gibt es keine unter den internierten Frauen, und wenn doch, dann ist sie kalkuliert und dient dem Zweck, sich einen Vorteil zu verschaffen. Nete ist eine dieser Frauen, aber noch ist sie jung, keine 20, und es lebt Hoffnung in ihr, denn sie ist nicht wie die anderen.

Jussi Adler-Olsen ist der Sohn eines Oberarztes, der lange Jahre in psychiatrischen Krankenhäusern gearbeitet hat. Auch die Familie wohnte dann dort, wo der Vater arbeitete. So lernte der junge Jussi schon früh das Anderssein kennen, das gesellschaftlich als abnorm gebrandmarkte Verhalten seelisch kranker Menschen. Es hat den Heranwachsenden offenbar geprägt, denn neben Soziologie, politischer Geschichte und Film studierte der 1950 in Kopenhagen geborene Adler-Olsen schließlich auch Medizin.

Eine frühe Erfahrung zudem, die wohl sein kritisches Bewusstsein geformt hat: Nach Jahren als Redakteur und Verlagsleiter brachte Adler-Olsen 1997 seinen ersten Roman heraus, "Das Alphabethaus", eine aufwühlende, die Verhältnisse anprangernde Geschichte über zwei britische Soldaten, die gegen Ende des Zweiten Weltkriegs in einer zu damaliger Zeit existierenden psychiatrischen Anstalt in der Nähe von Freiburg Zuflucht finden - mit fatalen Folgen. Dort werden medizinische Experimente am Menschen betrieben, ganz so wie auf der kleinen dänischen Insel Sprogø, ganz so wie in Adler-Olsens aktuellem Roman "Verachtung". Hier schließt sich ein Kreis.

Sonderermittler Carl Mørck, sein syrischer Assistent Hafez el-Assad (welch Name!) und sein Team bekommen es in ihrem vierten Fall nach "Erbarmen", "Schändung" und "Erlösung" erst einmal mit einer seit 25 Jahren vermissten Frau zu tun. Rita Nielsen heißt sie, und sie ist nicht die einzige Person, die 1987 plötzlich verschwunden war. Fünf Menschen waren es damals, und alle tauchten sie zur selben Zeit ab aus dem öffentlichen Leben. Ein komplizierter Fall, nicht nur wegen der Jahre, die seitdem vergangen sind. Irgendwann aber in ihren Recherchen stoßen die Ermittler auf den Namen Curt Wad. Ein Mann, der sein Leben einer politisch rechtsradikalen Vereinigung verschworen hat, die in das dänische Parlament einziehen möchte. Curt Wad, ein Mann bereits hohen Alters, ist Gynäkologe von Beruf. Als Carl Mørck klar wird, welche Abgründe sich in der Lebensgeschichte auch von Curt Wad auftun, nimmt der Fall eine Wendung, die Mørck und seine Kollegen in eine lebensgefährliche Situation bringen.

An die schändliche Geschichte dieser kleinen dänischen Insel Sprogø in einem dramaturgisch gut gebauten und clever inszenierten Kriminalroman erinnert zu haben ist ein Verdienst von Jussi Adler-Olsen. Der Rest seiner Geschichte ist reine Spannung.

Jussi Adler-Olsen: Verachtung. Dt. von Hannes Thiess. dtv, 543 S., 19,90 Euro

Jussi Adler-Olsen liest aus "Verachtung" beim Harbour-Front-Festival, dt. Text Peter Lohmeyer, Moderation Margarete von Schwarzkopf: Do 20.9., 20 Uhr, Universität, Audimax 1, Von-Melle-Park 4, Karten zu 14 Euro unter T. 040/30 30 98 98