Das Nature Theater of Oklahoma aus New York, die derzeit populärste Performancetruppe, gastiert beim Sommerfestival auf Kampnagel.

Hamburg. Mein Gott. Muss das Leben im US-Bundesstaat Rhode Island öde sein. So unspektakulär, dass es in seiner Alltäglichkeit schon wieder kunsttauglich ist. Wer eine oder mehrere Episoden aus dem Epos "Life and Times" des Nature Theater of Oklahoma erlebt hat, wundert sich zunächst, wie Kristin Worrall, eine heute 38-jährige Amerikanerin, die abseits aller politischen Wirrnisse in einer ganz und gar durchschnittlichen Mittelstandsexistenz heranwuchs, plötzlich zu einer Bühnenfigur wurde.

Es fing damit an, dass Worrall dieses Leben an die Regisseure Pavol Liska und Kelly Copper telefonierte. 16 Stunden lang. Das Regie-Autoren-Duo nutzte das Material für einen radikal konzipierten Mehrteiler von Proustschem Ausmaß, genannt "Life and Times". Aufgeführt vom Nature Theater of Oklahoma, einer Performance-Gruppe, die so "off" ist, wie nur irgend vorstellbar. Eins zu eins fließt der Text auf die Bühne. Inklusive aller Äh's und Ähm's. Sommerfestival-Leiter Matthias von Hartz entdeckte die Truppe 2008 in New York und brachte sie nach Europa.

"Life and Times, Episode 1" wurde an der Wiener Burg uraufgeführt, reiste zum Theatertreffen und seither von einem Festival zum Nächsten. "Episode 2" kam 2010 ebenfalls in Wien heraus und war auch in Hamburg bereits zu sehen. Beim Sommerfestival auf Kampnagel folgt nun die Koproduktion "Life and Times, Episodes 3 & 4". Wie der Hoffnungsschimmer, den eine gleichnamige Theatertruppe in Franz Kafkas Roman "Amerika" in Protagonist Karl pflanzt, gilt das Nature Theater of Oklahoma als Heilsbringer für all jene, die sich eine Erneuerung des Theaters aus dem Geiste des Hyperrealismus wünschen. Es steht für "ein Theater, das jeden brauchen kann, jeden an seinem Ort".

Das Loft in Queens, Long Island, in dem Kelly Copper Besucher empfängt, bewohnen sie und Pavol Liska noch nicht lange. Bis vor einem Jahr hauste das Paar in einem Zimmer in Manhattan, als Internetzugang musste die Leitung des Nachbarn im Badezimmer herhalten. Kelly Copper, wie immer mit schlingpflanzenartig aufgetürmtem Rotschopf, Shirt und Brille in passender Signalfarbe, kann den Erfolg noch immer nicht fassen. Noch vor Jahren fühlte sich das Duo wie jener Karl im Kafka-Roman. Der Slowake Liska strandete als Jugendlicher in Oklahoma. Copper fühlte sich in Kalifornien, wo sie aufwuchs, entfremdet. An den teuren, unsubventionierten Bühnen in New York wird das Naturtheater seine Arbeit kaum jemals aufführen. Dafür gilt es als größter Hype der europäischen Festivalszene und profitiert von dessen vergleichsweise exzellenter Ausstattung.

Das Erstaunliche an "Life and Times" ist, wie die Gruppe scheinbar Banales in goldene Theatermomente verwandelt. Mit Spielfreude und Humor, Tanz und kollektivem Turnen, Gesang und chorischen Vorträgen. Die Liebe zur Kindergärtnerin, den Streit unter Freunden, das Drama des schulischen Misserfolges. Aber unter der Oberfläche des Entertainments lauert das Existenzielle. Das Ringen um Individualität in einer auf Konformismus ausgerichteten Gesellschaft.

Dabei will sich das Naturtheater so weit wie möglich von herkömmlichen Formen des Erzählens entfernen. Jede neue Episode wird in die Form eines speziellen Genres verpackt. Einzige Bedingung: trivial muss sie sein. Nach Musical und 80er-Jahre-Disco gibt's jetzt - ein Kriminalstück. Ein britisches Wohnzimmer, Türen, Fenster, Wollkostüm und Karomuster. In einem traditionellen Dekor aus Agatha Christie's "Mousetrap" arbeitet sich die Truppe weiter im Leben der Kristin Worrall voran - und gelangt doch nur bis zur fortgeschrittenen Jugend. Aber es sind spannungsreiche Jahre. Jahre wie ein Krimi. "Wir wollten hier mehr Risiko eingehen", erzählt Kelly Copper. Die naturalistische Kulisse vermittelt die Enge, das Gefangensein in den Teenagerjahren und seinen drängenden moralischen Fragen. Soll man Marihuana rauchen? Oder Alkohol trinken? Es geht um Schuld und Unschuld. Auch natürlich um den Aufruhr der Gefühle. Ihre erste große Liebe wird die Hauptfigur schließlich mit einer Katze erleben.

Für das Leben und die Zeiten gibt es kein Zurück - bis Episode 10 erreicht ist. "Manchmal möchte man schon ausbrechen", räumt Kelly Copper ein. Die Kritiken nach der aktuellen Uraufführung waren, wie immer beim Nature Theater of Oklahoma gemischt. Die radikale Form, die Auswalzung des Beiläufigen polarisiert. Beim Festivalpublikum in Avignon galt die Truppe nur als "die Verrückten aus Amerika". "Die Tradition von Expertise und Training liefern wir nicht", sagt Kelly Copper. Das Naturtheater findet begeisterte Fans und ruft Gralshüter des Sprechtheaters auf den Plan. "Wir sind an einfachen Dingen interessiert", so Copper. Ein zweidimensionales Theater ist das Ziel. Ein eigentlich längst überholt geglaubter Naturalismus. Durchbrochen von hyperrealistischer Sprache. Und diesmal auch ergänzt um einen handgemachten Animationsfilm.

Episode 5 ist bereits in Arbeit. Bei Episode 10 wird Kristin Woodrall 34 sein - ihr Leben endgültig Avantgarde.

Nature Theater of Oklahoma: Life and Times, Episodes 3 & 4 24.8., 20.00; 25.8., 19.00, Kampnagel, Jarrestraße 20-24, T. 27 09 49 49; www.kampnagel.de