Mit dem grandiosen Stück “Life and Times - Episode 2“ begann das Live-Art-Festival auf Kampnagel

Hamburg. Wie wirklich ist unsere Wirklichkeit noch? Können wir sie selbst bestimmen oder werden wir bestimmt von Bildern, sozialen Mustern und medialen Fiktionen? Wie real kann Kunst in einer fiktiven Realität sein? Ist sie vielleicht sogar wirklicher als die Wirklichkeit? Diese Fragen beschäftigen die Künstler, die Anne Kersting zur dritten Ausgabe des Live-Art-Festivals auf Kampnagel eingeladen hat.

Pavol Liska und Kelly Copper, das Regie-Duo vom Nature Theater of Oklahoma aus New York, präsentierte zum Auftakt die Fortsetzung seines biografischen Theaters "Life and Times - Episode 2". Auf das Thema Kindheit des ersten Teils folgt nun die Schulzeit.

Unter der Glitzerkugel auf spiegelglattem Dancefloor zeigte das Spieler-Sextett präzise bis in die kleinste Geste die Qualen des Erzogenwerdens und die Wirren der Pubertät. In einer Art Sprech-Singsang gab es solistisch und chorisch Telefonprotokolle wieder, in denen - "oh my god!" - eine Durchschnittsamerikanerin ihre Erinnerungen erzählt. Im Gegensatz zur gesprochenen ersten Episode hatten Liska und Kopper den Redestrom musikalisch, rhythmisch und tänzerisch strukturiert. Robert M. Johanson, ton- und richtungangebend als "Weißer Mann" inmitten der Frauengruppe, war ebenso großartig wie Julie LaMendola (in Pink) und Anne Gridley (in Grün). Sie erzählten berührend, pathetisch oder wütend vom Entdecken des Körpers ("I must, I must increase my bust"), der Sexualität und vom ersten Kuss. Spätestens dann kam den Zuschauern ihre eigene Vergangenheit in den Sinn.

Fumiyo Ikeda aus Anne Teresa De Keersmaekers legendärer Gruppe "Rosas" illustrierte in gebrochenem Englisch die Schulprobleme der Erzählerin. Sie choreografierte auch die Disco-Tanz-Figuren mit Schulterzucken und Kopfnicken (Zeichen der Hilflosigkeit oder Zustimmung). Das Marschieren im Gleichtakt, die Uniform der Trainingsanzüge, der gnadenlose Inszenierungsdrill des Initiationsrituals in die westlich-amerikanische Lebensart spiegelten so faszinierend soghaft wie brutal, ganz locker und komisch die Tragik von Erziehungs- und Kollektivzwängen wider.