Das Dockville im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg, das mit drei Tagen Konzerten und Kunst zu Ende ging, ist ein Festival der Kontraste.

Hamburg. Kunst oder Pop? Wald oder Wiese? Sekt oder Selters? Gummistiefel oder Lackschuh? Große Bühne oder kleines Bretterpodest? Installationen anschauen oder begreifen? Schlafen oder die Nacht durchtanzen?

"Entweder. Oder" lautete das Motto des Dockville-Sommers am Wilhelmsburger Reiherstieg, der am Wochenende mit einem dreitägigen Kunst- und Musikfestival für 20 000 Besucher zu Ende ging. Und Mladen Miljanovic, einer jener Künstler, die seit Wochen auf dem Gelände gearbeitet und gelebt hatten, stellte eine schöne Frage zu diesem Leitmotiv: "Ist die Welt die gleiche, aus verschiedenen Perspektiven betrachtet?" Eine Einladung, das schillernde, staubige Treiben aus gegensätzlichen Blickwinkeln zu betrachten. Denn Mittelmaß gibt es schließlich schon genug.

+++ Bürgermeister Olaf Scholz zeigte sich beeindruckt vom Dockville +++

Die Festivalgänger konnten entweder kollektiv verschwitztes Miteinander suchen wie zum Indietechno der Thüringer Captain Capa oder Liebe finden wie beim DJ-Set der Hamburger Gruppe Lovegang, die mithilfe eines üppigen rosa Plastikherzens dazu aufrief, sich ein Stück vom Glück zu holen. Sie konnten sich entweder in einem Heuballenhaus verstecken oder sich bei einer Bühne namens Torte wie die Kopenhagener Meerjungfrau auf überdimensionalen Baiserskulpturen drapieren. Sie konnten sich beim Poetry-Slam über die "Materie Festival" samt "50 Shades of Matsch" aufklären lassen oder sich mit Sonnencreme und -schirm vor 50 Schattierungen von Rosa schützen. Sie konnten entweder zu sattem Pluckern und Plockern in einem hölzernen Nest tanzen oder zu sachtem Plätschern am Elbarm träumen.

"Plagiat oder Revolution?", lautete die zentrale Frage des Dockville-Künstlers Anton Unai aus Spanien. Ein spannender Ansatz, vor allem bezogen auf die Musik, die sich in unseren Tagen mit Samples und Zitaten immer wieder neu erfindet und zusammensetzt. Doch grau ist alle Poptheorie. Und so zeigte sich beim Dockville einmal mehr, dass Fachsimpeln kein Live-Erlebnis ersetzen kann. Denn es fehlt das Geben und Nehmen. Auch bei der Interaktion hatten alle Beteiligten erneut die Wahl.

Das T-Shirt konnte man als Wetterschutz um den Kopf wickeln oder während der Animationsshow der isländischen Afrorocker Retro Stefson auf die Bühne werfen. Im Publikum ließ sich frisch gepflücktes, gelb blühendes Kraut schwenken, auf der Bühne konnte eine Sängerin wie Dillon selbst zum komplexen Gewächs werden und die Menge mit ihrem dunklen Gesang und wucherndem Electro-Sound umranken. Die Briten Maxïmo Park widmeten einen Song Usain Bolt, "dem schnellsten Mann der Welt", und sandten nervösen Indierock über die Elbinsel, ihr Landsmann James Blake hingegen sagte schlicht "Es ist schön, zurück zu sein" und drückte basslastige Entschleunigung in die Tiefen der Seele.

"Warum möchte jeder sichtbar sein?", wollte Jérôme Leuba, ebenfalls Teilnehmer des Dockville-Kunstcamps, von den Besuchern wissen. Das Warum blieb zwar währenddessen meist unbeantwortet. Aber dass die Tag- und Nachtschwärmer gesehen werden wollten, stand außer Frage. Das Optische, es war bei der sechsten Ausgabe des Dockville ein Fest der Kontraste: Afro oder Seitenscheitel. Blumen oder Federn auf dem Haupt, Kapitänsmütze oder Karlsson-vom-Dach-Propeller. Graues oder blaues Haar. Mit Glitzer einen Sternenaugenaufschlag zaubern oder sich einen bunt reflektierenden Schnauzer kleben. "White Beutel Alive" oder "Tanzen ist auch Sport" als Spruch auf dem Jutebeutel tragen. Hippiemäßig aufrüsten und mit Seifenblasenmaschine transparente Magie versprühen oder traditionell mit dem eigenen Atem runde Vergänglichkeit in die Luft pusten.

Einfallsreichtum war aber nicht nur bei der kreativen Aufhübschung des Selbst gefordert, sondern ebenfalls beim Umgang mit den Kunstwerken, die zwischen den sechs Bühnen angesiedelt waren. Eine Zigarettenschachtel lässt sich natürlich einfach wegwerfen. Aber gestaltungswillige Gäste hatten mit Karton und Filtern einfach das Refugium ergänzt, das Anton Unai aus dem Restmaterial anderer Künstler gezimmert hatte. Das Projekt "Schwemmland" war von außen betrachtet ein Floß aus Plastikcontainern, doch von innen eine durchkrabbelbare Ausstellung, die eine Fotoexpedition durch Wilhelmsburg zeigte. Das Stahlrohrgeflecht mit dem Titel "borderville" ließ sich einfach betrachten. Mit einem beherzten Schlag wurde das Konstrukt jedoch zur Musikmaschine, das brodelnde Töne absonderte. Wo hört die Grenze auf, wo fängt der Übergang an? Derlei Denkprozessen setzten sich jene aus, die auf einem der zahlreichen Kunstspaziergänge die Werke des Festivals erkundeten. Und wer nicht genug bekommen konnte von all dem Kontroversen, der ließ sich noch ein Stück literarisches Entweder/Oder auf den Körper malen. Das Hamburger Kollektiv Krautzungen schrieb Sätze aus Tolstois "Krieg und Frieden" auf Arme, Beine, Rücken und Dekolletés, um den Roman wahrhaft zum Leben zu erwecken.

Der französische Künstler The Wa widmete sich mit seiner Festivalfrage dem zentralen Thema, wie all das Be- und Gefühlte in die Erinnerung eingeht: "Was bleibt übrig?" Handyfotos oder schwarz-weiße Bilder, die die Besucher in alten Fotoautomaten schießen konnten. Statusmeldungen auf Facebook oder analoge Grüße per Karte, die sich auf dem Postamt des StadtlicHH-Magazins verschicken ließ. Momente in Hirn und Herz konserviert oder auf einer der Feedback-Karten notiert, die in orangefarbenen Boxen auf dem Gelände um konstruktive Kritik baten.

Letztlich, so lehren uns Kunst und Musik beim Dockville, lässt sich das ganze Hin und Her, Für und Wider, Entweder/Oder aber doch immer wieder aufs Allerschönste auflösen.

Da kann etwa der Amerikaner Samuel T. Herring wie ein Opernsänger intonieren und trotzdem zum Synthiepop seiner Band Future Island tanzen wie eine Disco-Queen. Da kann der Berliner Prinz Pi "immer noch Hip-Hop" machen und trotzdem aussehen wie ein Holzfäller. Da kann jemand das Konfetti in den Boden treten und trotzdem am Himmel nach Sternschnuppen suchen.