Mit einem glänzenden Auftakt eröffnete das Sommerfestival auf Kampnagel mit Theater, Konzert, Tanz und einer Barkassenfahrt.

Hamburg. Die Krise ist da. Längst. Und doch ist sie für die meisten von uns noch immer gefühlt. Diffus. Es ist ja auch so angenehm, die Widrigkeiten der schlingernden Euro-Zone und der Globalisierung zu vergessen. Das fällt umso leichter, wenn sich dem Auge eine idyllisch begrünte Industrieanlage darbietet. Wenn ein Turm aus Stroh und gigantische Schaukeln in höhere Gefilde entheben.

Idylle? Na ja, nicht ganz. Dafür schwankt der Gang zu sehr auf dem Boden aus gehäkselten schwarzen Autositzen. Und holla, ein Bauwagen verwandelt sich zu vorgerückter Stunde in einen Höllenschlund der Laster. Erneut hat die Künstlerin Martina Stoian das Zentrum des Internationalen Sommerfestivals Hamburg 2012 auf Kampnagel in eine leuchtend reale Utopie verwandelt - doch die Welt, sie dringt unerbittlich herein. Und das soll sie auch.

+++ Am Sonntag zu Eddie Palmieri, dem Magier der Salsa +++

Bevor die vermeintliche Komfortzone im fünften Jahr unter dem scheidenden Leiter Matthias von Hartz zum Thema "Grenzen des Wachstums" am Eröffnungsabend von der Kunst durchbrochen wird, gibt es wärmende Worte. Kultursenatorin Barbara Kisseler beglückwünscht Matthias von Hartz dazu, künftig als Leiter der Foreign Affairs die künstlerisch stagnierende Hauptstadt aufmischen zu dürfen. Dafür überlasse Hamburg Berlin gerne eines seiner "besten Pferde im Stall", gesegnet mit der "Nase eines Trüffelschweins", das sich vom "jungen Hund zum alten Hasen" entwickelt habe. Das Festival sei hervorragend positioniert und habe all ihre Erwartungen übererfüllt.

Die vermeintliche Idylle - auch die touristische - sie soll bei der Hafenkonzertrundfahrt über Wachstumsgrenzen "Die Ausgedehnten" mit flammender Punk-Attitüde eingerissen werden. Zumindest beim offiziellen Senatsempfang gelingt das nur bedingt. Während der Hamburger Musiker Schorsch Kamerun an allerlei Elektronik-Gerätschaften herumfuhrwerkt, liest Schauspieler Fabian Hinrichs größtenteils unverständliche Textbrocken von einer zerknitterten Vorlage ab. Das knarzt, quietscht und rasselt den Besuchern nur so in den Ohren, dass sie sich dann doch klassisch auf den Genuss von Fischfrikadellen und die eindrucksvolle Hafenkulisse konzentrieren.

+++ Festivalwochenende +++

Zurück zum Tierischen. Die Krise, sie hat auch einen Geruch, nämlich den von Schweinefutter. Der spanische Künstler Santiago Sierra hat es für "The Hellenic Peninsula Devoured by Pigs" großzügig in einer Halle in Form der griechischen Halbinsel verteilt. Dort duftet es vor sich hin und wartet darauf, an diesem Sonnabend um 18 Uhr von einer Horde Schweine vertilgt zu werden. Der Süden Europas sozusagen von einem Haufen (Polit-)Säue verwüstet. Eine Riesenschweinerei, das.

Vieles liegt in der ungarisch-rumänischen Grenzregion im Argen. Der ungarische Regisseur Arpád Schilling hat dazu eine ganze Krisentrilogie entwickelt. Teil drei, "Die Priesterin", der nun beim Festival gastiert, serviert auf schlichter Bühne recht holzschnittartig die Dichotomien junge, moderne, alleinerziehende Lehrerin gegen verknöchertes, konservatives Kollegium, kirchlicher Starsinn gegen Säkularität, Stadt gegen Land, Mehr- gegen Roma-Minderheit. Dennoch, der Abend lebt von der Dringlichkeit der mitspielenden Jugendlichen aus Transsilvanien, der Authentizität ihrer Lebensgeschichten, die sie live oder über Filmeinspielungen präsentieren.

Statt äußere Krisenmomente zu zeigen, verursacht der französische Choreograf Boris Charmatz in "Levée des conflits" eher inneren Aufruhr beim Zuschauer. Sein konsequent formales Spiel mit Körpern und dem Motiv der Wiederholung grenzt für manche an Tortur. Etliche flüchten da doch lieber in den Garten oder in den Klub. Zumal Redundanz innerhalb der einzelnen Bewegungsmodule, von den Tänzern hingebungsvoll ausgeführt, vorherrscht und ebenso die gesamte Struktur der Choreografie bestimmt. Was mit der Geste einer einzelnen Tänzerin beginnt, vervielfachen fugenartig 22 weitere. Sie verbinden sich im leeren Bühnenkasten zu einer quirligen, fallenden oder springenden Masse, deren Energielevel zur anschwellenden Geräusch- und Ton-Collage steigt. Die Gruppe kreist wie Teilchen um den "Lichtkern" eines Atoms, um in völliger Stille wieder zur Ruhe zu kommen. Von Merce Cunningham inspiriert, ähnelt Charmatz' Choreografie dessen puren Bewegungs- und Körper-Spielen im Raum. Der Tanz entfaltet einen magischen Sog, fasziniert durch die Kraft und Klarheit der vom Werden und Vergehen des Lebens erzählenden Bilder.

Die Auseinandersetzung mit dem Dunklen, sie ist nicht mit Gefälligkeit zu erkaufen. Die für drei Wochen real werdende Utopie des Sommerfestivals ist eine zeitlich limitierte Vision der Hoffnung, dass sich die Misere vielleicht doch noch zum Guten wendet. Wie im guten alten Westerngenre, in dem das Gute immer obsiegt. Und so lässt sich am Ende des langen Abends zu den melancholisch-versöhnlichen Gitarren-Klängen der in Berlin lebenden Britin Gemma Ray herrlich in einen imaginativen Sonnenuntergang reiten.