Beim SHMF-Lesungskonzert in Blankenese standen von Robert Schumann vertonte Werke des Dichterfürsten auf dem Programm.

Hamburg. Die Goethe-Verehrung des 19. Jahrhunderts war für Robert Schumann keine Selbstverständlichkeit. Erst relativ spät fand der Komponist einen Zugang zu den Texten des deutschen Dichterfürsten, um sie dann umso sensibler zu vertonen.

Die Früchte dieser künstlerischen Begegnung waren jetzt bei einem sehr stimmigen SHMF-Programm in der ausverkauften Blankeneser Marktkirche zu erleben, das Lieder von Schumann mit Lesungen verwob und umrahmte.

Im ersten Teil rezitierte - oder besser: erzählte - der großartige Schauspieler Rolf Becker aus Goethes "Wilhelm Meister". In natürlichem, aber präzise getimtem Sprachfluss ließ er einige Schlüsselszenen des Romans Revue passieren und die wichtigsten Figuren auftreten. Damit lieferte er den Sängern eine perfekte Vorlage: Michael Nagy ergründete den Charakter des Harfners und dessen tiefe Melancholie ("Wer sich der Einsamkeit ergibt") mit seinem warmen, aber zugleich auch kernigen Bariton, Christiane Karg spürte den Sehnsüchten und Erregungszuständen der mysteriösen Kindfrau Mignon zwischen Fernweh ("Kennst du das Land") und Verzweiflung nach - und zeigte mit ihrem riesigen Ausdrucksspektrum von gehauchten Klängen bis zur glühenden Intensität, weshalb sie zu den überragenden Liedinterpreten unserer Zeit gehört.

Der Pianist Gerold Huber grundierte diese Momentaufnahmen aus "Wilhelm Meister" mit jenen dunklen Zwischentönen, die Schumann den beiden Hauptpersonen abgelauscht hat. In den trüben, oft zwischen Dur- und Mollbereich changierenden Harmonien der Klavierbegleitung spiegelte Huber die innere Unruhe und die emotionalen Schwankungen der Protagonisten.

Leider wurde der dichte Spannungsbogen aus Text und musikalischen Psychogrammen nach jedem Lied durch einige besonders eifrige Klatscher unterbrochen. Dieser Drang zum Zwischenapplaus passte in der zweiten Hälfe besser, weil Schumann in seiner Auseinandersetzung mit Goethes "Faust" abgeschlossene Szenen von längerer Dauer komponiert hat.

Besonders packend, auch in der abgespeckten Fassung ohne Orchester: Gretchens albtraumhafte Begegnung mit dem bösen Geist alias Mephisto im Dom. Vier Sänger des Festivalchores und der junge Bass Tareq Nazmi - eine sensationelle Entdeckung! - schufen hier ein bedrohliches Szenario, von dem die arme Büßerin förmlich erdrückt wurde. Als Christiane Karg als Gretchen mit erstickter Stimme "Nachbarin! Euer Fläschchen!" stammelte, wirkte sie wirklich beinahe kreidebleich und wie kurz vor der Ohnmacht.

Das war fraglos der dramatische Höhepunkt des Abends, aber noch nicht dessen Finale. Denn als einer von wenigen Komponisten hat sich Schumann auch an "Faust II" herangewagt.

Nachdem Rolf Becker mit einem Text des Literaturwissenschaftlers Dieter Borchmeyer in die Gedankenwelt des komplexen zweiten Teils eingeführt hatte, durchlebte Bariton Michael Nagy schließlich noch die Erblindung und den Tod des Faust.

Dessen Ende deutet Schumann um, indem er dem Schlusschor eine christliche Wendung gibt. Da widerspricht er dem Dichter sehr eigenwillig. Die Goethe-Verehrung war für ihn eben keine Selbstverständlichkeit.