Keine Versöhnung, keine Gnade: In “Die Gejagten - Ferien von der Blutrache“ erklärt Dokumentarfilmer Marc Wiese das grausame archaische Ritual.

Die Kamera verharrt einen Moment auf dem Gesicht eines alten Mannes. "Keine Versöhnung, keine Gnade", sagt er. Die Worte klingen kalt, bitter, unmenschlich. Später fügt er hinzu: "Alles ist gesagt, was gesagt werden muss." Diese Sätze fallen nicht in einem Actionfilm. Sie fallen nicht in einem Kriegsgebiet. Sie fallen in Shkoder, einer Stadt im Norden Albaniens. Das Besondere an diesem Ort: Hunderte Familien dort leben in Blutrache.

Marc Wiese hat bereits vor fünf Jahren einen Dokumentarfilm über dieses archaische Ritual gedreht. Im Frühjahr dieses Jahres begleitete er eine Gruppe albanischer, von Blutrache bedrohter Jugendlicher bei ihrer Reise durch Deutschland. Im Mittelpunkt des Films "Die Gejagten - Ferien von der Blutrache", den die ARD heute zeigt, steht Christian, der seit 18 Jahren isoliert leben muss. Sein Vater und sein Onkel hatten Anfang der 90er-Jahre nach einem harmlosen Streit einen Verwandten getötet - den Sohn des Mannes, der die eingangs zitierte Sätze spricht. Die Sippe des Getöteten verlangt seitdem Christians Tod.

"Wenn ich durch diese Tür gehe, erschießen die Rächer mich", erzählt der junge Mann. "Ich kann mich nicht erinnern, dass ich einmal frei war." Während Christian spricht, sitzt er in seiner Wohnung. Die Vorhänge vor den Fenstern sind zugezogen. Die Wände kahl, kaum Möbel. Doch diese Wohnung ist der einzige Ort, an dem er sich sicher fühlen kann. Im eigenen Haus darf der Gejagte nicht getötet werden.

Blutrache ist ein Ritual, das den Zuschauer verstört, und Wieses Reportage will genau das erreichen. "Die geraubte Ehre kennt keine Buße. Sie kann nicht verziehen werden", heißt es im Kanun, dem Gewohnheitsrecht, das im Norden Albaniens nach wie vor gelebt wird. Von einigen Jahrzehnten während der Herrschaft des Kommunisten Enver Hodscha (Enver Hoxha) abgesehen, gilt es seit gut 600 Jahren.

Es ist eine abgeschiedene Gegend, da im Norden Albaniens. Der Film zeigt heruntergekommene Häuser, eine Menge Grau, wenig Grün - und viel Armut. Die Großfamilie, das wird rasch klar, ist hier noch weit verbreitet. Oft leben drei Generationen unter einem Dach. Anführer ist der älteste Mann; Frauen haben kaum Rechte. Kern des Kanuns ist der Begriff der Ehre, aus dem sich eine Reihe von Pflichten ableiten lässt. Manche sind positiv wie das Gastrecht oder die Besa, eine Art Friedenspakt. Die Blutrache ist es nicht.

Seit dem Zerfall des Kommunismus ist Blutrache - zumindest im Norden - wieder zum Alltag geworden. Schätzungen zufolge sollen bis zu 15 000 Menschen von ihr betroffen sein. Natürlich widerspricht Blutrache der Rechtsprechung. Doch die Schwäche der örtlichen Polizeibehörden ist allgegenwärtig. Beamte zeigen in der Reportage Orte, an denen Menschen getötet wurden, präsentieren Waffen, die beschlagnahmt wurden, zumeist nach den Bluttaten.

Die deutsche Ordensfrau, Schwester Christina Färber, kümmert sich um Jugendliche, die wegen der Blutrache in Isolation und Todesangst leben müssen. Sie versucht mit praktischer Hilfe und Gesprächen, den tödlichen Kreislauf zu durchbrechen. Oftmals ohne Erfolg: "Ich habe schon so viele Menschen mit einer Kugel im Kopf auf dem Boden liegen sehen", erzählt sie. Die Reportage von Marc Wiese berührt den Zuschauer immer dann, wenn die jungen Menschen mit einfachen Worten ihr Schicksal beschreiben. Oder wenn Schwester Christina es stellvertretend tut, weil der Betroffene tot ist. Der 17-jährige Seff zum Beispiel sei vor fünf Jahren erschossen worden, erzählt die Ordensfrau. Nach sieben Jahren Eingesperrtsein habe er es nicht mehr ausgehalten, sei hinausgegangen - in die Freiheit und in den Tod. Wann ein Gejagter erschossen werde, spiele keine Rolle. "Nach zehn Jahren, nach 30 Jahren, nach fünf Wochen", sagt sie.

Auch wenn es in der Reportage in erster Linie um die jugendlichen Opfer von Blutrache geht, verliert Wiese die vermeintlichen Täter und deren Leid nicht aus dem Blick. Wenn der alte Mann, dessen Sohn von Christians Onkel erschossen wurde, sagt: "Solange ich lebe und solange meine Nachkommen leben, gibt es keine Vergebung", dann zeigen die Worte vor allem eines: die Ausweglosigkeit des Rituals.

Manchmal wirkt der Film zu vollgestopft. Die Bilder von den Auftritten der albanischen Jugendlichen in deutschen Schulen bleiben farblos, der Besuch beim Papst ebenso. Dass die Gejagten am Ende des Films mit ihrer Unterschrift der Blutrache abschwören, ist hoch anzuerkennen. Was aber nutzt das, wenn die Jäger nicht zur Versöhnung bereit sind?

"Die Gejagten - Ferien von der Blutrache", heute, 23.30 Uhr, ARD