Seit 25 Jahren wird die Sommerliche Musikakademie in Hamburgs Norden von einem ganzen Stadtteil getragen.

Hamburg. Ohlstedt, das muss man wissen, ist eine Hamburger Vorstadtidylle. Je nach Jahreszeit blühen Rhododendren oder Hortensien, man kann Lavendel riechen oder Rosen, überhaupt: viel Grün, keine Hektik, viel Platz. Links und rechts der Straße: große Bäume, große Grundstücke, große Gärten, große, gepflegte Häuser. Ein Spaziergänger mit (ebenfalls großem) Hund, zwei blonde Mädchen auf Ponys, ein paar Jugendliche mit ihren Fahrrädern. Man hört sanftes Blätterrauschen (der Wohldorfer Wald), zufriedenes Pferdeschnaufen (die Koppeln der Reitställe), gelegentlich ein Flugzeug (die Einflugschneise).

Es gibt hier nicht viel Infrastruktur, eine U-Bahn-Endhaltestelle, einen überschaubaren Wochenmarkt, zwei Schulen, von denen die eine den verwunschenen Namen Am Walde trägt, keinen Supermarkt, nicht einmal mehr den kleinen Tante-Emma-Laden.

Es könnte eine zufriedene Langeweile herrschen in dieser Ohlstedter Vorstadtidylle.

Aber es gibt einen Festspielhügel. Den Grünen Hügel von Ohlstedt.

Und es gibt eine Gemeinschaft. Verwurzelung. Engagement. Menschen, die rund um diesen Hügel, auf dem ja eigentlich bloß die Kirche steht, etwas geschaffen haben, das in dieser Form in Hamburg einzigartig sein dürfte. Denn was das schleswig-holsteinische Wacken in großem Stil für die Heavy-Metal-Fans aus aller Welt ist, ist Ohlstedt - zugegeben, in deutlich bescheidenerem Rahmen, aber tatsächlich ebenfalls mit weltweitem Ruf - für die klassische Musikerausbildung. Seit 25 Jahren nämlich steht hier ein ganzes Dorf hinter der Sommerlichen Musikakademie, in der Studenten aus aller Herren Länder alljährlich Meisterkurse bei renommierten Musikprofessoren belegen. Und für die sie fast zwei Wochen den kleinen Hamburger Stadtteil an der Grenze zu Schleswig-Holstein okkupieren: Sie üben in den Klassenzimmern der beiden Schulen, sie essen in der Schulkantine, sie schlafen bei den Ohlstedtern in den Gästezimmern, sie konzertieren in der Kirche, sie treffen sich auf ein Bier im Landhaus Ohlstedt oder in der Kneipe Wanderer an der Dorfstraße. 69 Musikstudenten sind es in diesem Jahr - und alle ohne Ausnahme sind privat einquartiert.

"Das ergibt sich so auf dem Markt", sagt Petra Stoppel leichthin, als müsste jedem Großstädter sofort einleuchten, welche Kontaktbörse, welch sozialer Mittelpunkt so ein Wochenmarkt sein kann, und verrät damit zugleich viel über den Motor, der die Musikakademie am Laufen hält. Ihr Mann Klaus Stoppel, Cellist bei den Hamburger Philharmonikern seit mehr als 40 Jahren, Musikprofessor an der Lübecker Hochschule und Bürger von Ohlstedt, hat die Sommerliche Musikakademie Wohldorf-Ohlstedt vor einem Vierteljahrhundert erfunden. Und dass sie seither existiert und wächst und sich einen Ruf erarbeitet hat, das ist vor allem ihm zu verdanken und seiner Frau - und der Ohlstedter Dorfgemeinschaft, die auf angenehm unprätentiöse Art Wohlstand mit Pragmatismus und Enthusiasmus zu verbinden versteht.

"Wenn wir die Leute hier nicht hätten, dann würde das ja gar nicht gehen", sagt Klaus Stoppel, stellt eine Flasche Mineralwasser auf den Terrassentisch und ergänzt: "Wasser ist sozusagen das Stichwort." Es war nach der Taufe seines Sohnes in der Matthias-Claudius-Kirche auf dem Ohlstedter Kirchberg, als vor mehr als 25 Jahren ein eingeladener französischer Flötist bemerkte, man habe hier ja "einen richtigen Festspielhügel". Eine freundliche Übertreibung, natürlich, die Kirche liegt auf einem hübsch bewachsenen Moränenwall, aber Klaus Stoppel dachte: Stimmt eigentlich. Ein Festspielhügel. Warum nicht?

Ein Festival gab es im Norden damals mit dem Schleswig-Holstein Musik Festival bereits, aber eine Musikakademie? "Ich hab meine Studenten immer in Meisterkurse geschickt", sagt Stoppel. "Technisch sind sie oft schon auf hohem Niveau, aber die Inspiration, die neuen Einflüsse, das ist immens wichtig." Eine Musikakademie, für die sich die Begabten mit CD oder DVD bewerben müssen, in der sie auf hervorragende Professoren treffen, sich mit anderen Studenten vergleichen und mit ihnen gemeinsam musizieren können, das ist auch ein Teil Charakterbildung.

Und der künstlerische Anspruch ist hoch in Wohldorf-Ohlstedt, Meister ihres Fachs wie Thomas Brandis (Violine), Siegfried Palm (Cello) oder Aurèle Nicolet (Flöte) wirkten hier, dank der Kontakte des Philharmonikers Klaus Stoppel. Schüler waren zum Beispiel die Mitglieder des Artemis Quartetts, der Cellist Jens-Peter Maintz, heute selbst Professor an der Berliner Hochschule der Künste, oder auch Gustav Frielinghaus vom Hamburger Amaryllis Quartett, der zum 25-jährigen Bestehen in einer Festschrift gratuliert: "Gerade die Abgeschiedenheit von Hamburgs City, die grünen Waldwege und die ruhige Umgebung haben mich zum einen auf das Wesentliche konzentrieren lassen und gaben zum anderen auch Entspannung und Ruhe zwischen Unterricht und Üben." Es müsse eben nicht "ein südfranzösisches Städtchen mit seinen zahlreichen Festivals" sein oder "ein toskanisches Bergdorf mit seinen vielen Kirchen". "Das Ehepaar Stoppel und die zahlreichen Organisatoren haben bewiesen, dass wir auch in Hamburg toskanisches Flair haben können."

"Ja, Gustav Frielinghaus, der hat bestimmt dreimal an der Akademie teilgenommen", erinnern sich Stoppels, die längst so etwas wie die Herbergseltern dieser Meisterkurse sind, zugleich das Herz der Akademie und ihr logistisches Zentrum. "Seit es E-Mails gibt, ist manches einfacher geworden", sagt Petra Stoppel.

Der Familienhund tollt durch den Garten, im Wohnzimmer steht neben dem Flügel ein erst kürzlich geerbtes Cembalo. Stoppels sind sympathische, offene Leute, aufdringlich sind sie nicht. Und doch müssen beide über einen starken Überzeugungswillen verfügen, sonst wäre es ihnen kaum gelungen, zuerst den Pastor und die Schulleiter, dann die Kulturbehörde und schließlich die gesamte Nachbarschaft von ihrer Idee zu begeistern - nicht ausnahmsweise und einmal, sondern jedes Jahr aufs Neue.

Die damalige Kultursenatorin Helga Schuchardt, erinnert sich Klaus Stoppel, habe er nach dem Festspielhügel-Zitat seines Kollegen auf einer Philharmonikerreise kurzerhand im Flugzeug mit seiner Idee überfallen, ein Konzept hatte er da noch nicht. "Sie war erst skeptisch", sagt er und lächelt. "Und dann angetan." 5000 Euro gibt die Behörde seither, eine überschaubare und natürlich nicht ausreichende Summe, aber "es gibt hier ein paar reiche Leute, mit denen ich jedes Jahr rechnen kann." Auch der örtliche Lions Club engagiert sich, natürlich der Pastor, der seine Kirche und das Gemeindezentrum öffnet und als "offizieller Veranstalter" auftritt, jeder Ohlstedter, so scheint es, ist nach seinen Möglichkeiten dabei. Der Hausmeister des Gymnasiums schmiert mit seiner Familie die Brötchen zum Eröffnungsabend, die beiden Schulleiter stellen - wie vor 25 Jahren schon ihre Vorgänger - die Unterrichtsräume. Ihre Schüler profitieren, denn sie können gar nicht anders als wahrzunehmen, wenn junge Menschen unterschiedlichster Nationen ihre Instrumente teils auf Fahrrädern über den Schulhof schieben und "sogar aus kleinen, weiß gekachelten Räumen Gesangsetüden tönen".

"Es sind schon sehr besondere junge Menschen, die herkommen", sagt Ilse Bornemann-Swadzba, die seit rund zehn Jahren Musiker bei sich am Alsterblick aufnimmt. Meist bekommt sie Cellisten zugeteilt, weil der Weg von ihr zum Kirchhügel nicht so weit ist, aber das Instrument so schwer. Warum sie als Gastmutter mitmacht? Frau Bornemann-Swadzba schaut irritiert, diese Frage ist ihr selbst nie gekommen. "Na, das machen doch hier alle", sagt sie schließlich und gießt ihrem Gast beherzt Rhabarberschorle nach.

Auch das Ehepaar Gehle nimmt in seinem Haus am Ende einer Sackgasse seit 17 Jahren Musikstudenten auf, 30 waren es bislang, aus Japan, Taiwan, Korea, Litauen, Rumänien. Gehles sind über 70 und genießen es, zur Akademiezeit im August Leben und Jugend um sich zu haben: "Wir planen inzwischen sogar unseren Urlaub nach der Musikakademie." Eine Studentin aus China mochte besonders das selbst gemachte Quittengelee und "die beiden Japanerinnen, weißt du noch", die seien besonders ehrgeizig gewesen, "die haben sogar in der Nacht geübt!" Eine im Schlafzimmer, eine "in der Rumpelkammer", die unorthodoxen Zeiten hätten ihnen selbst rein gar nicht ausgemacht, winken Gehles ab, "wir gehen spät ins Bett".

In wenigen Tagen, wenn die Studenten wieder anreisen und vielleicht wie vor ein paar Jahren ein paar instrumentenbepackte Koreaner verloren in einem Ohlstedter Vorgarten herumstehen, weil sie ihre Gastfamilie nicht auf Anhieb finden, wenn ordnungsgemäß die Hortensien blühen, wenn ungerührt die Blätter des Wohldorfer Waldes rauschen, wenn man im ganzen Stadtteil Geigen und Oboen und Celli aus den geöffneten Fenstern hört, dann muss man wissen: Ohlstedt ist eine Hamburger Vorstadtidylle.

Aber keine wie alle anderen.

XXV. Sommerliche Musikakademie Wohldorf-Ohlstedt, 3.-12. August, Eröffnungskonzert mit dem Notos-Quartett und Festakt am 3. August, 20 Uhr, Matthias-Claudius-Kirche, Bredenbekstraße 59, Anmeldungen und Informationen im Internet unter www.sommermusikakademie.de