Exil ist das Thema der 67. Sommerlichen Musiktage, die jetzt eröffnet wurden. Es kann auch die Zuflucht nach innen sein, die Musik eröffnet.

Hitzacker. Zumindest am Eröffnungstag blieb das Motto der Sommerlichen Musiktage in Hitzacker, das in diesem Jahr "Exil" lautet, noch etwas im Ungefähren. Waren Beethoven, Schumann und Schubert, deren Musik am Sonnabendnachmittag im Verdo erklang, etwa Verfolgte, die in einem anderen Land Zuflucht suchen mussten? Natürlich nicht. Doch dehnt man den primär politisch besetzten Begriff des Exils so ins Private, Persönliche aus, wie die neue Intendantin Carolin Widmann dies tut - in die Zuflucht nach innen und die daraus resultierende Vereinzelung bis Vereinsamung -, dann haben die genannten Komponisten darin alle Platz. Beethoven: taub und allein. Schumann: verrückt und allein. Schubert: Syphilis und allein.

Man kann darüber streiten, ob das Wort vom Exil nicht ein zu großes ist für die mal seelische, mal körperliche Krankheit des Künstlers am Hier und Jetzt und seine Sehnsucht nach dem Anderswo. Doch ob das Motto nun passte oder nicht: drei exquisit gespielte Werke der Kammermusik bot das Eröffnungskonzert allemal. Widmann hatte mit der Cellistin Marie-Elisabeth Hecker und dem Pianisten Martin Helmchen zwei enge musikalische Weggefährten engagiert, die allerbestens aufeinander eingespielt sind. Beethovens D-Dur-Sonate für Violoncello und Klavier, insbesondere dem zweiten Satz, gaben die beiden tatsächlich jene Innerlichkeit, die am stärksten schmerzt, weil sie die lapidare Kraft der Töne fast für sich sprechen lässt, mit wenig Vibrato und ohne deklamatorisches Brio.

Auch Schuberts so schön sangliche Arpeggione-Sonate, die Mstislaw Rostropowitch einst mit dickem Ton zur kaloriensatten Repertoire-Sahneschnitte beförderte, strich Frau Hecker schlicht und zart aus ihrem selbst dann noch wundervoll präsent klingenden Cello. Im Adagio schien die Zeit sich ein paar Takte lang fast wie in einer Séance ins Unendliche zu dehnen.

Als zum Schumann-Trio Nr. 3 g-Moll dann die sehr schwangere Chefin mit ihrer Violine hinzukam, erfuhr das wundervoll entrückte Konzert sofort nicht nur Erdung, sondern geriet auch aufs Schönste unter Strom. Carolin Widmann musiziert mit einer ansteckenden Unbedingtheit, die frei ist von allem Angestrengten.

Im Abendkonzert schwiegen die Instrumente. Die Vokalsolisten Stuttgart präsentierten ein ehrgeiziges A-cappella-Programm zwischen italienischem Frühbarock und zeitgenössischer Musik. Das war beziehungsreich komponiert und wurde vom Countertenor Daniel Gloger und dem Bass Andreas Fischer launig bis weitschweifig anmoderiert. Doch die Exzesse und Manierismen der Vokalpolyfonie für fünf bis sieben Stimmen trieben selbst das sonst zu allen Schandtaten avancierten Hörens bereite Hitzacker Stammpublikum an die Grenzen seiner Aufnahmefähigkeit und -bereitschaft. Madrigale von Gesualdo sind mit ihren fortwährenden chromatischen Rückungen und harmonischen Umwertungen gewiss verflucht schwer zu singen, aber das will man als Hörer bitte nicht merken. Mit Rebecca Saunders "Soliloquy" überzeugte das Ensemble am meisten; die in Berlin lebende Britin, passend zum Exil-Motto der 67. Hitzacker-Ausgabe "Composer out of residence" genannt, schärft ihre Vokalmusik mit Atemgeräuschen, mit Hauchen, Fauchen und subtilen Schwebungen. Die "12 madrigali" des in Umbrien lebenden Zeitgenossen Salvatore Sciarrino auf Haikus des japanischen Zen-Weisen Bashô hinterließen mit ihren häufigen Anleihen bei der Programmmusik den sonderbaren Eindruck anbiedernder Moderne. Komponisten, die Zikaden imitieren, schaffen nach der Natur, nicht wie die Natur.