Zum 50. Jahrestag der “Spiegel“-Affäre beleuchtet die ARD-Doku “Wegelagerer und Wichtigtuer?“ den Zustand des deutschen Journalismus

Hamburg. Dass im Oktober 1962 irgendetwas im Busch war, merkte Theo Sommer schon Wochen bevor es losging: "Da streunten so auffällig unauffällige Menschen um das Pressehaus", sagt er. Sommer, heute Editor-at-Large bei der "Zeit", war damals noch ein junger Redakteur. Und neben der Wochenzeitung residierte auch der "Spiegel" im Pressehaus am Speersort. Ihm galt das Interesse dieser "auffällig unauffälligen Menschen". Am Abend des 26. Oktober schlug die Staatsmacht dann zu: Die Polizei besetzte und durchsuchte die Räume des Nachrichtenmagazins.

Dies war der Auftakt einer beispiellosen Einschüchterungsaktion, die als "Spiegel"-Affäre in die Pressegeschichte einging. Wegen einer Titelgeschichte, die sich auf vertrauliche Resultate eines Nato-Manövers stützte, zweifelte "Spiegel"-Redakteur Conrad Ahlers an der Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr. Konrad Adenauer machte "einen Abgrund von Landesverrat" aus. Sein Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß setzte die Staatsanwaltschaft in Marsch. Ahlers und weitere "Spiegel"-Redakteure wurden festgenommen. "Spiegel"-Gründer Rudolf Augstein verbrachte 103 Tage in Untersuchungshaft. Doch letztlich ging die Pressefreiheit aus der Affäre gestärkt hervor: Strauß, der den Bundestag im Zusammenhang mit seiner Rolle bei der komplett überzogenen Aktion belogen hatte, musste zurücktreten. Vergleichbare Repressionen gegen die Presse hat es danach in der Bundesrepublik nicht mehr gegeben.

Wenn man so will, ist die "Spiegel"-Affäre ein Wendepunkt in der deutschen Pressegeschichte. Und es ist diese Wendepunkt-Funktion, welche die NDR-Autoren Grit Fischer und Maik Gizinski interessiert. Deshalb stehen am Anfang ihrer Dokumentation "Wegelagerer und Wichtigtuer?", die das Erste heute Abend sendet, weder historische Aufnahmen noch Statements des Zeitzeugen Sommer, sondern Bilder einer aktuellen "Spiegel"-Redaktionskonferenz. Fischer und Gizinski wollen wissen, wie die "Spiegel"-Affäre den Journalismus in Deutschland verändert hat. Ihr Film will nicht weniger sein als eine Bestandsaufnahme der Bedingungen, unter denen heute recherchiert, geschrieben und gesendet wird.

Das ist ein ambitioniertes Vorhaben, obwohl - oder vielleicht auch gerade weil - sich die Autoren so gut in der Branche auskennen. Beide sind seit Langem Autoren des NDR-Medienmagazins "Zapp". Und so wird in der Doku keine auch nur halbwegs wichtige Begebenheit der vergangenen Jahre ausgelassen: Der Anzeigenboykott der Bahn gegen das Wirtschaftsmagazin "Capital" nach einer kritischen Geschichte wird ebenso erwähnt wie die Probleme der Verlage, mit Journalismus in digitalen Medien Geld zu verdienen. Die Verweigerung einer Vertragsverlängerung durch die CDU/CSU-Mehrheit im ZDF-Verwaltungsrat für den damaligen ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender ist ebenso Thema wie der Versuch des damaligen Bundesinnenministers Otto Schily, mit Durchsuchungen der Redaktionsräume des "Cicero" und der Privatwohnung eines seiner Autoren ein Leck im Bundeskriminalamt ausfindig zu machen. Das miese Image der Journalisten kommt zur Sprache. Auch der Alltag eines Lokalredakteurs wird geschildert - wohl um dem Vorwurf zu entgehen, man beschäftige sich nur mit Hauptstadtjournalismus.

Für gerade mal 45 Minuten Sendezeit ist das eine ganze Menge. Folglich können einige Themen auch nur angerissen werden. Mitunter gleicht die Dokumentation einer atemlosen Parforcejagd. Die Gefahr, dass die Autoren den einen oder anderen überfordern, ist nicht von der Hand zu weisen - zumal "Wegelagerer und Wichtigtuer?" erst um 23.40 Uhr läuft, zu einer Zeit also, in der die Aufnahmebereitschaft mancher Zuschauer für komplexe Sachverhalte etwas eingeschränkt sein dürfte.

Seine stärksten Momente hat der Film, wenn er die Veränderung im politischen Journalismus beleuchtet. Demnach war bis vor wenigen Jahren die Beziehung von Politikern und Journalisten von Ressentiments, ja mitunter von Feindseligkeit geprägt. Die Autoren belegen das mit Zitaten von Politikern, die Journalisten wahlweise als "5-Mark-Nutten" (Joschka Fischer) oder "Wegelagerer" (Helmut Schmidt) beschimpften. Zuletzt jedoch habe sich das Verhältnis normalisiert. Wolfgang Schäuble und Ole von Beust treten in Interviews als Kronzeugen für diese These auf. Einfach ist dieses Verhältnis allerdings nicht. Es handelt sich um ein komplexes Netz von Geben und Nehmen, in dem sich zuletzt mancher Politiker verheddert hat. Der Film beleuchtet auch die Affären um Christian Wulff und Karl-Theodor zu Guttenberg, die sich unangreifbar fühlten, weil sie zu einigen Medien ein ganz besonders gutes Verhältnis zu haben glaubten.

Es hat sich also viel getan seit jenen Tagen im Oktober 1962, als die Polizei das Pressehaus besetzte. Der heutige "Spiegel"-Chefredakteur Georg Mascolo kann mit dem von Augstein geprägten Begriff vom "Sturmgeschütz der Demokratie", welches das Nachrichtenmagazin sei, nur noch wenig anfangen. Eines hat aber nach wie vor Bestand: Augsteins Diktum, die vornehmste Aufgabe des Journalisten sei zu "sagen, was ist", gilt noch immer. Die Autoren zitieren es mehrfach - aber leider nicht ganz richtig. Statt "sagen, was ist", heißt es bei ihnen "sage, was ist". Eine kleine Unkorrektheit, die jedoch nicht weiter ins Gewicht fällt.

"Wegelagerer und Wichtigtuer?" Mi 25.7., 23.40 Uhr, ARD