Kampnagel-Chefdramaturg András Siebold schaut beim Theaterfestival in Avignon auch nach Stücken für das Hamburger Sommerfestival 2013

Avignon. Die Zikaden singen, der Asphalt brennt, erst abends zischt der Mistral wohltuend durch die Gassen. Viele Menschen würden bei diesen Bedingungen nur noch am Pool liegen. Nicht in Avignon. Alljährlich, wenn die Mitarbeiter an den Stadttheatern ihre Sommerpause genießen, wird die mittelalterliche Stadt an der Rhône vom Festivalfieber erfasst und verwandelt sich in einen hyperventilierenden Kunstkessel. Mehr als 130 000 Theatermacher und 800 000 Besucher schieben sich durch die schmalen Straßen. András Siebold steckt mittendrin. Die dunklen Gläser seiner Sonnenbrille verbergen den notorischen Schlafmangel. Es ist sein dritter Besuch beim Festival d'Avignon, aber er hat vergessen, wie chaotisch es hier zugeht. "Diese Stadt verfällt dem Theater komplett."

1200 Gruppen präsentieren allein Veranstaltungen im "Off"-Katalog und werben verkleidet als pinke Dragqueens oder mittelalterliche Henker mit Kurzauftritten vor den Cafés um Besucher, während das offizielle "In"-Festival sich der Avantgarde widmet - in klimatisierten Sälen, Klosterinnenhöfen und einem Steinbruch. Diese Avantgarde gilt als richtungsweisend in Europa, strahlt hinaus in die Welt und steht in der 66. Ausgabe im Zeichen des britischen Theaters, der Romanadaption, aber auch existenzieller Fragen und der Kapitalismuskritik.

Wunderbar passt Elfriede Jelineks "Kontrakte des Kaufmanns" in Nicolas Stemanns geglückter Thalia-Version hierher, die auch das internationale Publikum mitreißt. Assoziierter Künstler ist in diesem Jahr der Schauspieler und Regisseur Simon McBurney, der mit seinem Théâtre de Complicité und einer bildgewaltigen Romanadaption von Bulgakows "Der Meister und Margarita" im Ehrenhof des Papstpalastes das große Illusionstheater zeigt, in das man sich hier in Avignon gerne mal versteigt.

Siebold, 36, derzeit Chefdramaturg auf Kampnagel, hat in Avignon eine zweifache Mission. Er schaut sich Produktionen für die kommende Spielzeit an und bereitet für den Sommer 2013 die erste Ausgabe des von ihm kuratierten Internationalen Sommerfestivals in Hamburg vor, dessen künstlerische Leitung er von dem sehr erfolgreichen Matthias von Hartz übernehmen wird.

Die Kunst anzuschauen ist dabei nur der halbe Job. "Das Gute ist, dass man hier viele Leute treffen kann. Jeder kommt hier vorbei und bleibt länger als bei anderen Festivals, weil die Stadt so angenehm ist", sagt Siebold. Avignon ist vor allem eine Informationsbörse. Festivalmacher und Intendanten treffen auf Künstler und Produzenten. Wer seine Arbeit hier zeigt, kann auf eine gute Saison hoffen.

Siebold hetzt zwischen Vorstellungen und Verabredungen hin und her. Mittags isst er mit dem Regisseur Rabih Mroué, der gemeinsam mit Lina Saneh seine von Kampnagel koproduzierte Arbeit "33 Tours et quelques secondes" zeigt. Die Installation kommt ohne Schauspieler aus. Nur ein Faxgerät, ein Anrufbeantworter, ein Fernseher und eine projizierte Facebookseite kommunizieren über den Suizid eines jungen Beiruter Künstlers. Weil er die Freiheit im Leben nicht findet, wählt er die Nicht-Existenz. Theater ohne Schauspieler - geht das überhaupt?, diskutiert die französische Presse. Die mediale Konfrontation öffnet neue Erzählebenen. Siebold wird gemeinsam mit Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard überlegen, ob die Produktion am besten im regulären Kampnagel-Spielplan oder in seinem ersten Sommerfestival aufgehoben ist. Anschließend wird mit der Kompanie gemeinsam ein Termin gesucht.

Ebenfalls für Hamburg angedacht ist Jérôme Bels gefeierte neue Arbeit "Disabled Theater", das er mit geistig behinderten, gleichwohl professionellen Performern der Schweizer Kompanie Hora einstudierte. Bel, der Star unter den französischen Choreografen, hinterfragt auf mehreren Ebenen Bewegung und Regeln im Tanz. Die Akteure müssen eine Minute stumme Konfrontation mit dem Publikum aushalten und dürfen zu ihrer Lieblingsmusik individuelle Ausdruckstänze hinlegen. Sie selbst sind es, die ihre eigene Exposition hinterfragen. "Meine Mutter sagt, das ist eine Freakshow", sagt einer. Genau das vermeidet Bel gekonnt. Die Aufführung dürfte in Europa herumgereicht werden.

Später sitzt Siebold dann in einer Vorstellung neben dem Künstler William Kentridge, der beim Festival mit einer Performance vertreten ist und mit "Da Capo" eine schön-versponnene Musik-Video-Installation in einer Kapelle zeigt. Jedes Gespräch könnte der Verweis auf die nächste große Kunstinnovation sein. Dafür hebt Siebold am Abend auch mal mit einem russischen Theaterkritiker ein Glas Rosé.

Wenn es Nacht wird in Avignon und die Hauptvorstellungen zwischen 1 und 2 Uhr morgens zu Ende gehen, begießen die Künstler Erfolg und Misserfolg in der Festivalbar. Die fügt sich dem mediterranen Rhythmus und öffnet erst eine halbe Stunde vor Mitternacht. "Die Bar ist ein neuralgischer Ort. Die Kommunikation funktioniert aber nur, wenn man partizipiert, also auch selbst Informationen hineingibt ", sagt Siebold, verlässt kurz den Cafétisch, um sich von einer kanadischen Festivalmacherin das Lob der jüngsten Christoph-Marthaler-Arbeit anzuhören.

Im engeren Gespräch ist Siebold bereits mit den Produzenten des gefeierten marokkanisch-belgischen Choreografen Sidi Larbi Cherkaoui. Vor der magischen Kulisse des Steinbruchs von Boulbon zeigt er mit "Puz/zle" in Fels getanzte Menschheitsgeschichte. Eine bombastische, virtuos von einem Solisten-Ensemble präsentierte Arbeit. Ein Assoziationsreigen von der Antike bis zur Gegenwart in einem ständig sich verändernden Quader-Bühnenbild, durchzogen von elegischen Gesängen der libanesischen Sängerin Fadia Tomb El-Hage und eines korsischen Vokalensembles. Tanztheater, das sehr offensichtlich überwältigen will. Drei Tage ist die Choreografie alt und nach Siebolds Ansicht noch zu lang. "Die hat bis jetzt vier Schlüsse. Einer reicht vielleicht." Die Hamburger werden das lieben, ist er sich sicher.

Das Ringen um die nächsten Innovationen und im Idealfall einen Publikumsrenner gleicht einer Trüffelsuche. Siebold ist da ein Meister der Andeutung. "Es gibt natürlich auch Leute hier mit einer Einkaufsmentalität, die sich die Rosinen rauspicken. Ich tendiere dazu, Risiken einzugehen, schaue also nicht alles panisch an, sondern helfe auch gerne, Arbeiten zu produzieren", sagt er. "Ich entscheide mich für einen Künstler, nicht nur für eine Arbeit." Die lässige Haltung verschleiert nur, dass so ein Festival eine Menge Arbeit bedeutet und nicht zuletzt eine tägliche Überforderung durch die Fülle des Programms.

Die Hitze brennt jetzt noch stärker. Das Theater, es kennt keine Siesta. Schon gar nicht im Sommer.

Festival d'Avignon bis 28.7., www.festival-avignon.com