Das Fabrik-Konzert der Engländerin war familiär, museal und bisweilen besorgniserregend. Sie zeigt sich von den wilden Zeiten gezeichnet.

Hamburg. Fünf- oder sechsmal habe sie schon in der Fabrik gespielt, glaubt Marianne Faithfull und blinzelt etwas zweifelnd ins Scheinwerferlicht. Erinnern könne sie sich nämlich an kein einziges Mal. Und könnte bitte mal einer dieses Scheinwerferlicht dimmen. Sie pustet. Zu heiß das Ganze. Man wird ja nicht jünger. Eine Binse, die im Publikum wohl jeder der mit Marianne Faithfull über die Jahre ergrauten Fans verstehen dürfte. Die Frauen tragen längst praktische Kurzhaarfrisuren statt wilder Mähne, ihre Männer tragen, na gut, immer noch, Bier.

Marianne Faithfulls große Zeit, die 60er-Jahre, in denen sie (nicht nur, natürlich, aber eben auch und entscheidend) mit ein paar Rolling Stones geschlafen hat, vor allem mit Mick Jagger, ist auch schon ein paar Tage her.

"As Tears Go By", jenen Song, mit dem, wie sie mit einem selbstironischen Seufzer sagt, "diese ganze verdammte Sache angefangen hat", und den einst Mick Jagger und Keith Richards für sie schrieben, den singt sie erst ganz zum Schluss. Sie muss ihn singen, das weiß sie, es gehört dazu, zu dieser ganzen verdammten Sache.

Aber ein paar Raritäten stehen diesmal auch auf der Setlist. Titel, die sie selten singt und für die sie - wie bei dem wunderbaren "Marathon Kiss", so gar nicht kitschig, sondern nur verschwenderisch gefühlvoll - ihre Brille und das Textbuch hervorkramen muss. Im letzten Jahr hat Marianne Faithfull ein neues, sehr erdiges Album herausgebracht; mit dem Titelsong "Horses and High Heels" geht sie, nach dem fabelhaften Pop-noir-Support von Gemma Ray, in den Abend. Und ihre dunkle Charakterstimme, die dieses ganze und in jeder Hinsicht fordernde Rock-'n'-Roll-Leben in sich trägt, zu viel Alkohol, zu viele Drogen, zu viele Zigaretten, zu viele (und die falschen) Männer, einfach zu viel Schmerz, füllt die Fabrik sofort mit einer raumgreifenden Selbstverständlichkeit.

Gesund sieht sie trotzdem nicht aus. Sie wirkt aufgeschwemmt, hat stark zugenommen, und sie ist erkältet. Sie hat Schweißausbrüche ("Dimmt jetzt mal einer die Scheinwerfer!"). Und sie hat einen "schlimmen Fuß". Weshalb Marianne Faithfull, 65, sich zu "Crazy Love", das sie einst mit Nick Cave schrieb, setzen muss und dabei witzelt, dass andere Künstler erst mit 81 einen Stuhl auf der Bühne bräuchten, sie sei halt immer schon ihrer Zeit voraus gewesen.

Ihre Fans, manche tauschen durchaus besorgte Blicke, lassen sich den Bewegungsdrang derweil nicht nehmen, vor allem bei "Broken English" wird ausgelassen getanzt; dass die Fabrik - anders als Kampnagel vor zwei Jahren - nicht ausverkauft ist, macht es leichter.

Marianne Faithfull wird so herzlich aufgenommen, als wäre sie ein Familienmitglied, und wahrscheinlich ist es tatsächlich ein ähnliches Gefühl, wenn man so viele Lebensjahre irgendwie gemeinsam verbracht hat. Sie gehört ins Bett, ist so ein dauerpräsenter Gedanke, den viele der anwesenden Herren vermutlich schon in jungen Jahren hatten, als sie Marianne Faithfull damals hörten und ihre verhangenen Augen sahen. Ja, sie gehört ins Bett, auch heute, nur eben anders.

Der Abend hat etwas Museales, es ist die Künstlerin selbst, die schließlich vorschlägt, man könne doch auch einfach seine Augen schließen. Dass sie dennoch eine gute Zeit hat, lässt sich vermuten, als sie einen ebenso schönen wie traurigen Satz sagt: "Fast die einzige Zeit in meinem Leben, in der ich tatsächlich glücklich bin, ist auf der Bühne." Die Fabrik verlässt sie dennoch ohne eine einzige Zugabe.