Der kulturbegeisterte Hamburger Kinderarzt Moritz von Bredow hat eine Biografie über die Cage-Pianistin Grete Sultan geschrieben.

Hamburg. Neben dem Bücherregal bei seinem Bechstein-Flügel hängt eine Postkarte mit dem Satz "Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum". Nietzsche, ein überlebensgroßer Denker, am Ende irre geworden, über sich selbst und den Rest der Welt. Auf Moritz von Bredows Flügel, mit Blick aus dem Altbaufenster, stapeln sich Noten, denen man ansieht, dass sie nicht nur Dekoration sind. Aufgeschlagen ist Schuberts A-Dur-Sonate, die spielt Bredow gerade. "Wer die Musik liebt, kann nie ganz unglücklich werden", hat Schubert, der wohl nur selten ganz glücklich war, der Nachwelt als Lebensweisheit hinterlassen.

Das Erste, was man sieht, wenn man Bredows Wohnung betritt, ist ein prall gefülltes CD-Regal. Er ist Kinderarzt. Der 50. Geburtstag ist in Sicht. Seit 14 Jahren praktiziert er in einer Praxis in Norderstedt. "Die Begegnung mit Grete Sultan, das muss ich schon sagen, die hat mein ganzes Leben verändert." Ein Leben, das ohne Musik und Kultur wohl kein Fundament hätte und keinen Ausgleich, keine Abrundung.

Wenn Bredow hier spielt, blickt neben dem Maria-Callas-Kalender und Bildern von Glenn Gould auch eine asketisch strenge Schwarz-Weiß-Fotografie aus dem Bücherregal über seine Schulter. Das ist Grete Sultan, eine der großen, zu unbekannten Pianistinnen des 20. Jahrhunderts. Der Pianist Claudio Arrau, ein lebenslanger Freund, schrieb über sie, sie zähle zu den "größten Klaviervirtuosinnen, gesegnet mit musikalischer Reinheit und Empfindsamkeit, Verstand und Seele". John Cage schrieb 1974 für sie den monumental schweren Klavierzyklus "Etudes Australes". Damit krönte sie im doch schon fortgeschrittenen Alter eine späte, kleine Weltkarriere. Gemeinsam tourten sie um den Globus und wurden gefeiert. Mit 90 gab sie einen letzten Klavierabend in der Carnegie Hall mit Bachs "Goldberg-Variationen", auswendig natürlich, es war das Stück ihres Lebens.

1906 wurde Grete Sultan geboren, in eine kunstsinnige jüdische Industriellenfamilie in Berlin. Sie hatte schnell erste Karriereerfolge, wobei Sultan, damals war das eine Sensation, keine Trennlinie ziehen wollte zwischen Klassik und Moderne. Bach und Schönberg, Beethoven und Bartok in einem Programm - das war damals unerhört und mutig. Adorno nannte sie "eine merkwürdig expressive und rebellische Pianistin". Dann aber kam die Flucht vor den Nazis nach New York, während die Familie zurückbleiben musste.

In den USA hatte Sultan jahrzehntelang Mühe, bekannt zu werden. Sie war zu alt inzwischen. Nicht glamorous genug für den Klassikbetrieb dort. Zu eigen, zu anders. Bis sie, von Zufällen getrieben, dem Komponisten John Cage begegnete, dem großen Spaßvogel und Spielregel-Ignoranten der Nachkriegsmoderne. Er war ein Schüler ihres früheren Berliner Klavierlehrers. So fing es an mit den beiden. Sie wurde Cages beste Schachpartnerin und seine Muse. Im Juni 2005 ist Johanna Margarete Sultan, 99 Jahre alt, in ihrer kleinen New Yorker Wohnung mit den zwei Flügeln gestorben. Wenige Stunden vor ihrem Tod hatte Bredow noch mit ihr gesprochen, ein letztes Mal.

Bredow hat von 2005 bis 2008 eine Biografie über Sultan geschrieben, in Kleinarbeit, nebenbei. Zwei Drittel länger als das 320-Seiten-Buch, das jetzt erschienen ist, war das Manuskript im Original. Er hat dafür Archive besucht, Material beschafft und gesichtet und mehr als 30 Interviews geführt. Auf das Gespräch über Grete mit Cages Lebensgefährten, dem Choreografen und Tänzer Merce Cunningham, musste er vier Jahre warten und er strahlt noch heute, weil es sich so sehr gelohnt hat, dieses Warten.

"Ja, ich denke, Nietzsche hatte recht", sagt Bredow, sanfte Überzeugung in der Stimme. "Musik ist ein absolutes Medium der inneren Balance." Was viel vergeistigter klingt, als es gemeint ist.

Mit den Eltern seiner kleinen Patienten spricht er oft, überraschend oft für manche, über die heilende und vorbeugende Kraft der Kultur. Sie sollen ihren Kindern Bildungserlebnisse vermitteln, je früher, desto besser. "Musik hat wirklich eine erstaunliche Wirkung auf Leib und Seele. Immer nur Hagenbeck, den HSV oder Pauli, das führt zu einer Bespaßung, die überhaupt nicht ausreicht, um in seinem Leben eine Erfüllung zu finden."

Der Beruf ist Bredows Pflicht, die Kür ist der Umgang mit Kunst. In Hamburg wurde er geboren, aufgewachsen ist er in der Nähe von Eutin. Mit "zehn Jahren und acht Monaten" der erste Klavierunterricht. Bredow hat Fagottspielen gelernt. Das Medizinstudium begann er in Kiel. Später ging er in die Schweiz und nach Großbritannien. Der Arzt Moritz von Bredow arbeitete zunächst in Berlin, dorthin fährt er auch jetzt noch einmal im Monat, um Klavierunterricht zu nehmen und in einem Kammerchor mitzusingen. Zum Gesangsunterricht geht Bredow in Hamburg, einmal pro Woche, zu einer "reizenden ungarischen Sopranistin" in Langenhorn. Der Privatmann Moritz von Bredow schreibt Lyrik, der Mediziner verfasste hin und wieder wissenschaftliche Texte.

Weil er seit Langem mit dem Pianisten Yevgeny Kissin befreundet ist, wurde Bredow zu einer Geburtstagsfeier nach London eingeladen, wo er von der Stiftung The Keyboard Charitable Trust erfuhr, die Nachwuchspianisten fördert. Ich bin in Hamburg, ich könnte doch mal mit Steinway sprechen, sagte er damals. Seit zehn Jahren ist er nun ehrenamtlich Teil dieser Stiftung, seit 2011 im Beirat und organisiert Auftritte für die jungen Talente in Hamburg, etwa acht pro Jahr sind es, unter anderem im Horowitz-Saal bei Steinway. Schon seit 1998 lädt Bredow zu kleinen Hauskonzerten ein. Nur Profis treten dabei auf, keine Hausmusiker, darauf legt er Wert; es soll so sein wie früher bei den traditionellen Berliner Salons, mit Klavier- und Liederabenden, mit Kammermusik, Lesungen oder auch mal mit Jazz. "An manchen Abenden sahen wir den Morgen tagen ...", schreibt er darüber in einer Mail.

Auf die Spur zu Grete Sultans Leben haben ihn mehrere Zufälle geführt. Der erste hatte mit Bachs Goldberg-Variationen zu tun. Bredow sammelt Einspielungen davon, und so stieß er vor einigen Jahren im Internet auch auf eine CD von und mit Sultan. Ohne anfangs zu wissen, wer sie war, fühlte er sich "vollkommen überwältigt" von dem, was er da hörte und über sie las. Als er 2000 in New York war, rief er einfach die Auskunft an und erhielt die Nummer der Exilantin. "Und dann kam dieses wundervolle, helle Stimmchen."

Wenige Wochen später der nächste große Zufall: Bredow hatte in einem Berliner Antiquariat ein altes Foto von Sultan gekauft; nachdem er es abholte, traf er einen befreundeten "Spiegel"-Redakteur. Im Café entstand die Idee eines großen Porträts über Sultan und beim gemeinsamen Besuch der alten Dame in New York die Idee für ein Buch über sie. Das Schreiben über Sultan war auch für den Umgang mit der eigenen Geschichte wichtig, seine Familie mütterlicherseits war jüdisch. Als wir über Sultan und diese Erinnerungen sprechen, sagt er: "Man vergisst das Schwere schnell." Auch gegen diese Art des Vergessens soll das Buch heilend wirken.

Eine Karriere als Musiker hat Bredow nicht angestrebt, denn er kann sich mit einem Gedanken nicht anfreunden: "Auf einer Bühne zu stehen, so meinen Lebensunterhalt zu verdienen und dabei zu wissen, dass vielleicht die Freiheit verloren geht, sich am Musikmachen zu erfreuen." Ob er die Entscheidung gegen die Musik und für die Medizin bereut hat? "In keinster Weise und niemals." Aber manchmal bedauert er, dass der Tag nur 24 Stunden hat.

Buch: "Rebellische Pianistin. Das Leben der Grete Sultan zwischen Berlin und New York". Schott, 320 S., 29,99 Euro. Lesung: 31.8., 19.30 Uhr, Bartels Noten, Gr. Theaterstr. 43. Eintritt frei.