SHMF-Eröffnung begeistert mit Rezitationskunst und Musik auf höchstem Niveau. Kongenial: Orchesterchef Hengelbrock und Schauspieler Brandauer.

Lübeck. 15 Jahre ist es her, dass Königin Sonja unter Polizeischutz und Fanfarengeschmetter das Kieler Schloss betrat, um einem norwegischen Gastspiel im Rahmen des Schleswig-Holstein Musik Festivals (SHMF) beizuwohnen: einer halbszenischen Aufführung von Henrik Ibsens Versdrama "Peer Gynt" mit der vollständigen Bühnenmusik von Edvard Grieg. Staatsschauspieler aus Oslo deuteten die Szenen an, die Griegs Musiknummern begründen. Das Sinfonieorchester Trondheim begleitete die Abenteuer des prahlerischen Weltenbummlers, der sich im Tollhaus zu Kairo zum Kaiser der Selbstsucht krönen lässt.

Peers irrwitzige Fantasiereise waren für Grieg "das unmusikalischste aller Sujets", und doch erhörte er die Bitte des Dichters um ein- und überleitende Musiken, lyrisch innehaltende Gesangsmomente und Tanzeinlagen - eine Herausforderung, die ihm der norwegische Staat mit einem Stipendium schmackhaft machte. So entstand in den Jahren 1874/75 ein Gesamtkunstwerk, das vielen Zeitgenossen als Erfüllung eines nationalromantischen Wunschtraums galt.

Obwohl Grieg, der in Leipzig studiert hatte, zeitlebens glaubte, das (ungekürzt) fünf Stunden lange Stück - von Kritikern damals als satirischer Spiegel des norwegischen Volkscharakters verstanden - habe in Deutschland keine Chance, erlebte es nach seiner Erstaufführung 1913 in Berlin (mit Grieg-Ehefrau und Sopranistin Nina Grieg als Solveig) mehr als 1000 Aufführungen. Jahrelang verschollen, tauchte ein Großteil der Bühnenmusik erst in den 1970er-Jahren wieder auf. Die vollständige Orchesterpartitur erschien tatsächlich erst 1988 im Zuge der Grieg-Gesamtausgabe.

Anders als sein Amtsvorgänger Franz Willnauer, der 1997 eine vom norwegischen Konzertinstitut "Rikskonsertene" produzierte Bühnenversion nach Kiel geholt hatte, entschied sich der SHMF-Intendant Rolf Beck zur Eröffnung des 27. Festivaljahrgangs am Wochenende für eine deutsch-österreichische Nachschöpfung: eine szenisch-konzertante Fassung, zu der sich der Chefdirigent des NDR Sinfonieorchesters, Thomas Hengelbrock, und der Schauspieler und Regisseur Klaus Maria Brandauer kongenial verbrüderten. Die szenische Konzeption des Charakterporträts schneiderte sich Brandauer buchstäblich auf den Leib. Sie steht und fällt mit ihm: seiner theatralischen Sendung, der Vielstimmigkeit seines Rollenspiels, seiner virtuosen Rezitationskunst.

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Wer sich in der ausverkauften Lübecker Musik- und Kongresshalle auf die Ohrwürmer aus Griegs bekannten Peer-Gynt-Suiten gespitzt hatte, wurde nun staunend gewahr, wie viele unbekannte, bildkräftige Stimmungs- und Situationsgemälde, Lied- und Tanzszenen Griegs Bühnenmusik tatsächlich enthält. Während die beiden populären Suiten nur acht Nummern verwenden, zählt das Gesamtwerk dreimal so viel. Allerdings haben Brandauer und Hengelbrock die Vorlage kräftig gekürzt. Nämlich auf weniger als zwei Stunden.

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Die das Auditorium umso mehr in Atem hielten. Auch wenn die Monologe, Dialoge und Hörspielszenen im Riesensaal nicht sonderlich gut zu verstehen waren und (daher) stellenweise - so beim Geplänkel mit den vier kolonialen Geschäftemachern in Marokko - ein wenig zu lang gerieten. Was wiederum das Verlangen nach erzählender und malender Schauspielmusik steigerte.

Eines ist gewiss: Brandauers Peer wird unser Bild vom fantasierenden, verschmitzten, aufschneiderischen, lebenshungrigen Bergbauernsohn einstweilen bestimmen. Mit der linken Hand in der Hosentasche. Aber auch einer tiefen Mutterliebe - ergreifend die Sterbeszene mit Maria Hengge - und Erlösungssehnsucht, die nur Solveigs mütterliche Treue zu stillen vermag. Daher seine Fähigkeit zur inneren Umkehr.

Doch was wären Peers verquere Abenteuer und westöstliche Eskapaden ohne die tönenden Stimmungs- und Situationsbilder des NDR Sinfonieorchesters: Waldweben und Unwettermusik, Entführung und Trolljagd, Halling, Serenade und Groteskmarsch. Samt magisch-dämonischen wie auch frommen Beiträgen des NDR Chors, verstärkt durch den Philharmonischen Kammerchor aus dem estnischen Tallinn.

Grotesk und unheimlich das Geißgemecker in der Trollszene. Wer je versucht hat, im Fjell zu picknicken, weiß, was es bedeutet, sich mit norwegischen Bergziegen anzulegen. Kurios das Trio der liebestollen Säterinnen (Almmädchen), urkomisch die Dialogszene von Dieb und Hehler. Engelhaft Christiane Karg (Sopran) mit Solveigs populärem Liebeslied und finalem "Vuggesang" (Wiegenlied). Betörend zudem Adrineh Simonian (Mezzosopran) als arabische Wüstentochter Anitra, deren erotischer Tanz Peer gar zu einem vieldeutigen Goethe-Zitat inspiriert: "Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan."

Schleswig-Holstein Musik Festival bis 25.8., Programm unter www.shmf.de