Beim Kaltstart-Festival in der Schanze überzeugen junge Theatermacher wie der Hamburger Carsten Brandau mit ihren sozialkritischen Stoffen.

Hamburg. Die Anschläge vom 11. September haben auch im Theater manches bewirkt: Es muss jetzt nicht immer die ermüdende Selbstbespiegelung strauchelnder Mittdreißiger sein. Gleich mehrere Produktionen, die beim Kaltstart-Festival gastierten, griffen Facetten des Themas auf. Vom Beziehungsdrama bis zur Mediensatire.

Der Brite Mark Ravenhill gilt seit "Shoppen und Ficken" als Experte für einen unbarmherzigen Blick unter polierte Oberflächen. In "Das Produkt" seziert er aufs Böseste die rabiate Einheimsung der Tragödie für einen Unterhaltungsfilm. Da zählt Quote. Und die liefert hier die Katastrophe. James ist ein Produzent aus dem Schreckenskabinett. Die Dollarzeichen im Blick, ersinnt er einen verwegenen Plot. Junge Geschäftsfrau verliert Geliebten im World Trade Center und verliebt sich in attraktiven Al-Qaida-Kämpfer. Sie wird ihn erst verraten, später überlaufen. Per Handclap klickt sich James, gespielt von dem quirligen Hendrik Vogt, in Anna-Lena Kühners Inszenierung von den Wuppertaler Bühnen durch schnellschnittige Szenen. Sein Körpereinsatz ist so makaber wie begeisternd.

"Jede Geschichte hat eine innere Wahrheit", sagt er. Manchmal auch eine äußere. Eine reale Liebesgeschichte erzählt der Hamburger Autor Carsten Brandau in "Wir sind nicht das Ende", das in Manuel Harders Regie vom Centraltheater Leipzig gastierte. Birgit Unterweger wandelt sich von einer mit Hingabe liebenden Frau in eine Furie, die sich selbst verletzt und ihren Partner Günther Harder mit Kunstblut beschmiert, als sie den Verrat aufdeckt, dass ihr Geliebter ein Terrorpilot war. Die Inszenierung ist wie diese Liebe auf Sand gebaut, durchzogen nur von ein paar Soundfetzen und kargen Lichtstrahlen. Die extreme private Tragödie rechtfertigt zudem das Verbalpathos.

Angesichts des Problems der "Unterschichten"-Gettoisierung versteigt sich dagegen Nils-Momme Stockmann in seinem Stück "Das blaue blaue Meer". Der Teufelskreis aus Alkoholismus, Prostitution und Schmerz wird hier ausgestellt wie ein maschinelles Getriebe, aus dem es kein Entrinnen gibt. Zudem zieht sich die Inszenierung vom Gostener Hoftheater Nürnberg allzu sehr auf die Wirkung der teils durch Mikrofon verstärkten Sprache zurück.

Schwerblütiger Stoff, der in dieser Festivalausgabe bislang auf erfreulich hohem Niveau verhandelt und präsentiert wird. Wohltuend, nicht nur wegen einer formalen Abwechslung, erscheint den überwiegend jungen Besucher aber auch der Humor, mit dem Gob-Squad-Mitglied Sharon Smith und Tom Parkinson in ihrer Performance "We might as well live" die Wirkung von Soundeffekten auf den Körper testen.

Das Duo huldigt der Raffinesse der Einfachheit mit großem Können. Parkinson lässt Kaffee per Keyboardanschlag in Boxen blubbern, Smith bringt mit ihrer Stimme Rotweingläser zum Springen, nachdem sie sich jede Menge des roten Saftes per Strohhalm eingeflößt hat. So geht es munter weiter mit Themen wie "Tiere oder Kinder", "Alkoholismus in den 40ern" und "Sadomasochismus". Der Austausch mit dem Publikum funktioniert aufs Beste, wenn Smith am Boden liegend eine Kakerlake mimt und einen Zuschauer nötigt, ihr auf den Rücken zu steigen, während alle übrigen Destiny's Childs "I'm A Survivor" anstimmen. Weiter so, Kaltstart.

Kaltstart Hamburg 2012 bis 14.7., Kulturhaus III&70, Schulterblatt 73; www.kaltstart-hamburg.de