Die junge Theaterschau beginnt mit zeitkritischen Projekten

Hamburg. Vor dem Knust liegt ein Knäuel aus farbigen Kupferkabeln, aus dem sich ein Körper frei zu kämpfen versucht. Um Freiheit und Überleben geht es auch den Boat People, die sich von Nordafrika über das Meer ins "Paradies" der Europäischen Union zu retten versuchen. Auf dem Saalboden im Kulturhaus III&70 hat Bühnenbildnerin Monika Rovan ein Dutzend Leichensäcke bereitgelegt.

Zeitkritische Projekte zu unterschiedlichen Themen, sozusagen "schwere Brocken" in installativen Bühnenräumen, eröffneten das Kaltstart-Festival. In der siebten Ausgabe präsentieren die künstlerischen Leiter noch bis zum 14. Juli ein vielfältiges und dichtes Programm, das für reichlich Gesprächsstoff sorgt. Die Open-Air-Performance "cörper cabel construction" von Gaetane Douine und Marie-Alice Schultz wie das Gastspiel des Grazer Schauspielhauses mit "Boat People - Antike Flüchtlingsdramen im Mittelmeer" provozierten bereits widersprüchliche Reaktionen des Publikums.

"Das soll Theater sein?", fragt sich laut ein Zuschauer beim Body-Text-Experiment der bildenden Künstlerin und der französischen Tänzerin. Sie verkörpern die heillose Verstrickung des heutigen Menschen, der im World Wide Web zappelt - auch wenn sich die Kabel nur zwischen den Holzbänken vor dem Knust zum elektronischen Kommunikationsnetz verknüpfen, aus dem sich die Performerin unter Einsatz aller Kräfte frei strampelt.

Ebenso hat sich Regisseurin Christine Eder mit ihrem engagierten Spieler-Quartett etwas am übergroßen und schwierigen Thema verhoben. Die Linzerin ließ schon während ihres Regiestudiums in Hamburg ahnen, dass sie nicht gerade zimperlich bei ihrer Stoffwahl und Inszenierungsweise ist. Für das "Boat People"-Projekt reiste sie mit dem Team an den Ort der Flüchtlingsdramen, an die "Schengen-Grenze" und auf die Insel Lampedusa, recherchierte und drehte dort einen Film.

In der Lecture- und Video-Performance verkehrt Eder die antike Praxis, zuerst die Tragödie und darauf das Satyrspiel aufzuführen. Zu Beginn des Abends hauen die Spieler dem Publikum Klischees und Gegenklischees über das Flüchtlingsproblem um die Ohren, inklusive eines zynischen Quiz-Spiels und des Vorwurfs, sich wohl alles bieten zu lassen. Mag der interaktive Klamauk manchmal Geduld und Geschmacksgrenzen strapazieren, erhöht er doch treffsicher die Wirkung der folgenden Teile. Das Spieler-Quartett verliest ruhig Protokolle von Interviews mit Flüchtlingen, Helfern oder Küstenschutz-Kommandanten und lässt beide Seiten - die Grenzschützer und die um ihr Leben kämpfenden illegalen Immigranten - zu Wort kommen. Auf Text verzichtet der Dokumentarfilm ganz. Er zeigt die Ankunft zweier Schiffe und die Notlager. Die Gesichter und das bedrückende Szenario sprechen für sich und wirken noch lange nach.

Kaltstart-Theaterfestival bis 14.7., Programm und Karten: www.dreiundsiebzig.de