Der Philosoph Georg Brunold sieht “Fortuna auf dem Triumphzug“ - ein sehr gefälliges und gescheites Buch, das den Zufall im Alltag feiert.

Wenn ich in den Fahrstuhl steige, sagen wir im siebten Stock, und auf dem Weg nach unten steigt in jedem Stock jemand zu, immer genau eine Person; dann fluche ich. Und sage mir: Was für ein Zufall. Wenn dann im Erdgeschoss genauso zufällig der Chef genau den Fahrstuhl betreten will, den ich gerade verlasse, dann denke ich: Was für ein Zufall, ich fuhr gerade runter, und er fährt jetzt hoch. Anderes Beispiel: Ein Mann liest ein Buch, in dem gerade ein Regenschauer niedergeht, Donner grollen, Blitze den Himmel zerschneiden. Genau in dem Augenblick donnert es draußen, und dann zuckt auch ein Blitz.

Wir begegnen diesen Zufällen alltäglich. Der Zufall ist das, was ungeplant, manchmal auch ungewollt eintritt. Niemand würde bestreiten, dass solche Dinge unser Leben bestimmen, ja: dass sie die Welt genau so zusammenhalten wie die Handlungen und Vorkommnisse, die wir willentlich herbeiführen. Aber da sind wir schon mittendrin im Dilemma: Wie ist das mit dem eigenen Willen? Der Zufall ist ja seit Jahrtausenden schon der Feind all derer, die einem naturwissenschaftlichen und deterministischen Weltbild anhängen. Nach ihnen beruht schlechtweg alles, was geschieht, auf einer Abfolge von Kausalketten: Nichts ist zufällig, alles vorherbestimmt.

Wäre dem wirklich so, dann könnte unser Wille, könnte unser Handeln gar nicht frei sein. Welchen Sinn hätte das Leben dann noch? Der freie Wille ist mit dem Reich des Zufälligen verwandt, er gehört zu ihm wie die Glücksgöttin Fortuna. Diese wurde von den Römern angebetet, die Griechen dagegen hatten Tyche: anderer Name, gleiches Begehr.

Wenn man den Schicksalsmächten ausgeliefert ist, wenn die Geschicke von einer Instanz gelenkt werden, die nicht von dieser Welt ist - dann muss es auch einen Willen geben, der auf sie ein- oder ihnen entgegenwirken kann.

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Liebesleid, Lebensleid

Die Annahme, dass die Welt nicht nur physikalischen Gesetzen unterworfen ist, ist die dem Schweizer Philosophen und Journalisten Georg Brunold sympathischste. In seinem sehr gefälligen und gescheiten Buch "Fortuna auf Triumphzug. Von der Notwendigkeit des Zufalls" erzählt er, wie der Zufall, das Risiko, die Wahrscheinlichkeit, die Statistik und das Glück (samt seinem Gegenteil: das Unglück) miteinander zusammenhängen.

Dabei berichtet er von philosophischen und wissenschaftlichen Schlachten, die geschlagen wurden; er zitiert die Denker von einst (Pierre-Simon Laplace: "Die wichtigsten Fragen des Lebens sind in der Tat vorwiegend Probleme der Wahrscheinlichkeit") und das, was der Volksmund schon seit jeher sagt: "Das Glück nimmt den Verstand, das Unglück bringt ihn wieder." Und Brunold erinnert an den Widerstreit der Disziplinen, wenn es um den Zufall geht: Wo die Wissenschaft der Welt alle Unberechenbarkeit auszutreiben sucht, sind die Künste darauf aus, jene zu ihren Gunsten weidlich auszunutzen.

Der Zufall, wie er uns im Alltag begegnet, unterscheidet sich in seinen Erscheinungsweisen graduell: Wir sind geneigt, etwas dann als Zufall zu bezeichnen, wenn die Aufreihung der Kausalkette, wenn die Ursachenforschung zu kompliziert wird. Wenn man aber sagt, dass alle Geschehnisse logischen Ursprungs sind (dass sich das Gewitter meteorologisch erklären lässt und die Lektüre, die der Lesende seinem Buch angedeihen lässt, eben genau in das Zeitfenster fällt, das für den Zeitvertreib geöffnet ist), dann geschieht alles so, wie es vorherbestimmt ist.

Dann gibt es keine Ereignisse, die automatisch in Gang gesetzt werden. In einer Zuspitzung bedeutete dies: Im Urknall, der unser Universum schuf, ist bereits angelegt, dass ich an einem Tag Ende Dezember 2011 in einen Aufzug steige und dann auf meinen Chef treffe.

Klingt gruselig? Ein bisschen vielleicht. Brunolds Anhänglichkeit hinsichtlich dem, was wir den freien Willen, Schicksal oder Glück nennen, ist die von uns allen. Der Philosoph formuliert unser Selbstverständnis, wenn er durchaus zwischen Zufall und freiem Willen unterscheidet (denn der Zufall wertet den freien Willen ab, und letzterer berechnet unser Handeln), und er preist den Zufall und die Ungewissheit als Ursprung aller Kreativität: "Was täten wir bloß ohne diese! Wir liefen auf Schienen bis zum jüngsten Tag."

Georg Brunold: "Fortuna auf Triumphzug. Von der Notwendigkeit des Zufalls". Galiani Berlin. 283 S., 19,99 Euro