Der Hamburger Grafiker Albert Schindehütte hat alte Geschichten neu illustriert - für ein Sachbuch, das zugleich künstlerischer Bildband ist.

Hamburg. Märchenhaft sieht das kleine, weihnachtlich geschmückte Zimmer im Haus des Grafikers Albert Schindehütte am Oevelgönner Elbufer aus. An den Wänden hängen viele seiner Zeichnungen, aus den kleinen Fenstern des historischen Lotsenhauses eröffnet sich ein grandioser Blick auf die Elbe und den Hafen, der mit seinen vielen Lichtern an diesem trüben Dezembernachmittag fast weihnachtlich illuminiert anmutet.

Auf dem alten Holztisch liegt ein dickes Buch in Halbleinen, das Schindehütte in diesem Jahr illustriert hat. "Es war einmal - Die wahren Märchen der Brüder Grimm und wer sie ihnen erzählt hat", heißt der Band, auf dem vorn Rotkäppchen zu sehen ist und auf der Rückseite der böse Wolf. Mit seinen unverwechselbaren ebenso zarten wie temperamentvollen Zeichnungen, Lithografien und Kalligrafien hat Schindehütte schon viele Bücher gestaltet, doch dieser Märchenband ist auch für ihn etwas Besonderes.

Aber es ist eben kein weiteres Buch mit den üblichen Märchen, sondern ein Band, der erstmals jenen bisher meist ungenannten Menschen ein Denkmal setzt, von denen Wilhelm und Jacob Grimm die Märchen empfangen haben. Dass hier erstmals die sogenannten Beiträger gewürdigt sowie den von ihnen überlieferten Märchen zugeordnet werden, ist das gemeinsame Verdienst von Schindehütte und dem Märchenforscher Heinz Rölleke - und der Ertrag jahrzehntelanger Recherchen.

Während sich draußen auf der Elbe langsam ein riesiges Containerschiff bildfüllend vors Fenster schiebt, erzählt Albert Schindehütte, was ihn mit den berühmten Märchensammlern aus Hessen persönlich verbindet. "Seit 1985 bin ich ein Mensch der Märchen", sagt er und erzählt, wie er damals in einem "Literarischen Führer durch Deutschland" auf den pensionierten Dragonerwachtmeister Johann Friedrich Krause gestoßen ist. "Gelebt hat er in Hoof, dem Nachbarort meines Heimatdorfes Breitenbach. Von ihm sind zwei Briefe erhalten, in denen er den Grimms neue Märchen avisiert, in der Erwartung neuer Beinkleider. Märchen im Tausch gegen Hosen, das hat mir gefallen", sagt Schindehütte, der neugierig geworden war. In den Handexemplaren, die im Grimm-Museum aufbewahrt werden und jetzt zum Weltdokumentenerbe der Unesco gehören, entdeckte er hinter einigen Märchen den handschriftlichen Vermerk von Wilhelm Grimm, dass ihm die jeweiligen Geschichten von Krause zugetragen worden seien.

Zu Lebzeiten hatten die Grimms nur Dorothea Viehmann als Beiträgerin namentlich erwähnt. Die anderen der insgesamt etwa 40 Beiträger blieben stets ungenannt, konnten aber mithilfe der Handexemplare zumindest teilweise recherchiert werden. Beflügelt wurde Albert Schindehütte bei seinen Forschungen, als sich auch noch herausstellte, dass Johann Friedrich Krause zu seinen Vorfahren zählt.

Noch 1985 widmete Schindehütte ihm das Buch "Krauses Grimm'sche Märchen", in dem zum ersten Mal ein Märchenbeiträger in den Mittelpunkt eines Buches gestellt wurde. "Die Märchen haben mich von da an nicht mehr losgelassen, weil es für mich auch mit meiner Herkunft zu tun hatte", sagt Schindehütte, der in seinem Heimatort Breitenbach, heute ein Ortsteil von Schauenburg, zu Ehren von Krause die "Märchenwache" gründete: Aus einer Feuerwache wurde ein Veranstaltungszentrum für Lesungen und Konzerte, das Schindehütte mit eigenen Zeichnungen und Holzschnitten ausstattete.

Manche davon sind auch in seinem Buch zu finden, das sowohl künstlerischer Bildband als auch Märchenbuch ist - und zugleich ein verständlich geschriebenes Sachbuch über die Entstehung der Märchen und über die vielen Menschen, die dazu beigetragen haben. Darunter gibt es einige Prominente, wie zum Beispiel der Maler Philipp Otto Runge, der den Grimms "Von den Fischer und siine Frau" schickte, aber die meisten der Beiträger waren bislang unbekannt. Bis zu ihrem Lebensende haben die Grimms die Märchen immer wieder verändert, sprachlich geglättet und in eine literarische Form gebracht, die gut verstanden werden kann. Trotzdem hat sich in einigen der Märchen noch der Ton und der ursprüngliche Duktus der Beiträger erhalten.

Der neue Band enthält bekannte und weniger bekannte Märchen dieser Art, die von insgesamt 25 verschiedenen Geschichtenzuträgern stammen. "Da gibt es bestimmte stilistische Eigenarten. Bei Krause, der Soldat war, finden wir militärische Begriffe und kaum eine weibliche Hauptrolle. Während die Großbürgertochter Marie Hassenpflug, die kaum einen Begriff von der damaligen Arbeitswelt gehabt haben dürfte, typischerweise Märchen wie Dornröschen überliefert hat", erklärt Schindehütte. Er nimmt die Brüder Grimm vor manchem Vorwurf in Schutz: "Sie haben die Märchen zwar geglättet, aber nicht verfälscht. Wilhelm Grimm hat 1825 für eine kleine Ausgabe 50 Märchen ausgewählt und denen einen einheitlichen Erzählton gegeben."

Dass sie dabei auch derbe und sexuelle Anspielungen sowie schlüpfrige Formulierungen entfernten, habe den damals gültigen Konventionen des Biedermeier entsprochen - und sei zugleich die Voraussetzung für den weltweiten Erfolg gewesen. Schindehütte hat nichts geglättet, ihm und Heinz Rölleke ging es darum, den ursprünglichen Märchenübermittlern möglichst nahezukommen. Was Rölleke wissenschaftlich getan hat, leistete Schindehütte mit seiner Zeichenkunst. Er schuf Szenen der Märchen, darüber hinaus aber auch Porträts der Sammler und Beiträger. "Ich betrachtete die Arbeit an diesem Buch vor allem auch als Hommage an den Maler und Radierer Ludwig Emil Grimm, den Bruder von Jacob und Wilhelm", erklärt Albert Schindehütte. Bei den meisten seiner Porträtzeichnungen für das Buch konnte er sich auf originale Vorlagen des dritten Grimm-Bruders stützen.

Draußen ist es dunkel geworden, und die märchenhaften Lichter des Hafens glänzen in der Elbe. Behutsam schlägt Schindehütte noch einmal das Buch auf und zeigt sein Lieblingsmärchen. Es heißt "Herr Fix und Fertig" und ist - wohl nicht zufällig - von Johann Friedrich Krause. Aber warum hat er ausgerechnet von ihm kein Porträt gezeichnet? "Leider gibt es sein Bildnis nicht. Ludwig Emil Grimm hat ausgerechnet meinen Urahnen nicht gezeichnet. Daher hatte ich keine Vorlage, ich hätte höchstens in den Spiegel blicken können, aber das wollte ich dann doch nicht", sagt der Künstler schmunzelnd.

"Es war einmal. Die wahren Märchen der Brüder Grimm und wer sie ihnen erzählte" Hrsg. von Heinz Rölleke. Illustriert von Albert Schindehütte, Die Andere Bibliothek, 480 Seiten, 79 Euro.